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Engelsfluch

Engelsfluch

Titel: Engelsfluch
Autoren: Joerg Kastner
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verschorfte und solche, die noch frisch waren, wie die Blutspuren an seinem Büßerhemd bewiesen.
    »Ich züchtige mich jede Nacht, bis ich blute«, erklärte er und zog sich wieder an.
    Custos sah ihn angewidert an. »Sie sind nicht stark, sondern nur abgestumpft, und Sie verwechseln Festigkeit mit Hochmut.
    Vielleicht haben Sie irgendwann einmal aus edlen Motiven heraus gehandelt, aber spätestens zu dem Zeitpunkt, als Menschenleben für Sie nichts mehr zählten, haben Sie den Weg des Herrn verlassen. Sie sind längst das Werkzeug des Bösen geworden, Lavagnino. Nicht Sie sind derjenige, der sich die Engelsmacht Untertan macht, die Gefallenen haben sich Ihrer Seele bemächtigt, und Sie sind zu ihrem Sklaven geworden. Der Engelsfluch ist über Sie gekommen. Kehren Sie um, solange noch Zeit dazu ist!«

    Lavagnino lächelte überlegen. »Aus Ihnen spricht nackte Angst. Sie fürchten um Ihr Pontifikat, das Sie die längste Zeit innegehabt haben.«
    »Ich fürchte nur um das Heil der Welt. In den wenigen Monaten, seit ich als Papst im Amt bin, habe ich mir oft gewünscht, die Wahl nicht angenommen zu haben. Sie können nicht ernsthaft glauben, dass es ein ständiges Frohlocken ist, Oberhirte der Christenheit zu sein. Sie, Lavagnino, denken wahrscheinlich nur an die Macht, die damit verbunden ist. Sie möchten diese Macht gern selbst ausüben, nicht wahr? Und die Gefallenen sollen Ihnen dabei helfen.«
    »Sie sind jedenfalls nicht der geeignete Mann auf dem Stuhl Petri, und auch Salvati hat sich als zu schwach erwiesen. Wenn Sie meinen, dass ein wirklich starker Mann der Christenheit vorstehen sollte, dann haben Sie Recht.«
    »Sie sind nicht stark!«, entgegnete Custos. »Sie sind der Schwächste von allen hier, denn Sie haben sich verführen lassen!«
    Lavagnino machte eine wegwerfende Handbewegung.
    »Genug mit diesem nutzlosen Geschwätz! Wir sollten mit der Zeremonie beginnen.«
    Ferrio gab darauf ein Handzeichen, und heller, klarer Chorgesang erfüllte den Felsendom. Die Musik kam hier vermutlich ebenso vom Band wie in der Felskapelle. Lavagnino fiel mit Blick zum Engelssee auf die Knie, und die übrigen Kardinäle taten es ihm nach. Sie begannen inständig zu beten, auf Lateinisch. Das wenige Latein, das bei Enrico aus der Zeit von Schule und Studium hängen geblieben war, reichte gerade aus, um die wichtigsten römischen Rechtsgrundsätze zu begreifen, von dem Gebet aber verstand er kein Wort. Das war auch nicht nötig. Ihm war klar, dass Lavagnino und seine Gefolgsleute die gefallenen Engel riefen. Die Kraft von Enrico, seinem Vater und Custos, der Engelssöhne, sollte der Katalysator sein, der die unsichtbaren Ketten der Gefallenen sprengte. Ein Blick über die Schulter zeigte Enrico, dass alle Geistlichen und auch die anderen Anwesenden auf die Knie gefallen waren. Nur die Gefangenen und ihre Wächter standen noch aufrecht.
    Das Gebet der Kardinäle wurde leiser, jedenfalls für Enrico.
    Ein anderes Geräusch beanspruchte seine Aufmerksamkeit: das Raunen in seinem Kopf, das zu einem lauten Rufen wurde, zu einem Schreien. Es hörte sich an wie die Klageschreie Tausender gepeinigter Seelen. Hörte er die gefallenen Engel, die unter einer Äonen währenden Gefangenschaft ächzten? Vor seinen Augen begann die Oberfläche des Sees zu verschwimmen, ein Effekt ähnlich dem Flirren sehr heißer Luft.
    Er konnte nicht sagen, ob es Einbildung oder Realität war, aber er sah etwas aus dem See aufsteigen, eine große Gestalt, und sie erinnerte ihn an das Wesen aus seinem Traum. Enrico wusste, dass er jetzt stark zu sein hatte. Im Traum hatte er es geschafft, den Dämon zurückzuhalten. Sein Vater hatte ihm geholfen.
    Auch jetzt war sein Vater an seiner Seite. Und Custos.
    Gemeinsam mussten sie es schaffen, die böse Macht zu bannen, mochte sie nun Luzifer oder wie auch immer heißen.
    Das Wesen flimmerte wie der See selbst. Sosehr Enrico sich auch bemühte, in ihm den Engel Uriel zu sehen, es wollte ihm nicht gelingen. Immer wieder zerflossen die Formen, nahmen eine andere Gestalt an. Je länger Enrico sich anstrengte, desto erschöpfter wurde er. Seine Kraft und seine Konzentration ließen nach, und er fühlte sich ausgelaugt. Mit Erschrecken beobachtete er, was über dem See geschah: Das Wesen nahm jetzt doch eine feste Gestalt an, aber nicht die, die er erhofft hatte. Was eben noch Flügel waren, veränderte sich zu fledermausartigen Schwingen, und das ebenmäßige Gesicht wurde zu einer zerklüfteten, narbigen
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