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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben
Autoren: Lisa Genova
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ERSTES KAPITEL
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    »Überlebende, fertig?«
    Jeff – der verwirrend gut aussehende TV-Moderator der Reality-Spielshow – lächelt, zieht das Warten in die Länge, weiß, dass er uns in den Wahnsinn treibt.
    »Los!«
    Ich renne durch den Regenwald. Käfer prallen gegen mein Gesicht, während ich vorwärtspresche. Ich bin eine menschliche Windschutzscheibe. Die Käfer ekeln mich an.
    Ignorier sie. Beeil dich.
    Scharfe Zweige schlagen mir entgegen und schlitzen mein Gesicht, meine Hand- und Fußgelenke auf, schneiden mich. Ich blute. Es brennt.
    Ignorier es. Beeil dich.
    Ein Zweig verheddert sich in meiner liebsten, teuersten Seidenbluse und reißt sie von der Schulter bis zum Ellenbogen auf.
    Na toll, jetzt kann ich sie zu meiner Frühbesprechung nicht mehr anziehen. Kümmer dich später darum. Beeil dich, beeil dich.
    Ich erreiche den Strand und entdecke die Treibholzplanken. Ich soll ein Floß bauen, aber ich sehe kein Werkzeug. Ich taste mit den Händen im Sand, doch ich kann kein Werkzeug finden. Dann fällt mir die Karte ein, die Jeff uns eine Sekunde lang gezeigt hat, bevor er sie in Brand steckte. Er hat gegrinst, während sie verbrannte. Leicht für ihn, so zufrieden zu sein, mit seinem vollen Bauch und seinen aprilfrischen Kleidern. Ich habe seit Tagen nichts gegessen oder geduscht.
    »Mom, ich brauche Hilfe«, wimmert Charlie an meiner Seite. Er sollte gar nicht hier sein.
    »Nicht jetzt, Charlie. Ich muss eine rote Flagge und einen Werkzeugkasten finden.«
    »Mom, Mom, Mom!«, beharrt er. Er zerrt an meinem aufgeschlitzten Ärmel und reißt ihn bis zum Aufschlag ein.
    Na toll, jetzt ist die Bluse endgültig ruiniert. Und ich nehme nicht an, dass ich vor der Arbeit noch Zeit haben werde, mich umzuziehen.
    Über dem flachen Strand, etwa hundert Meter vor mir, entdecke ich einen verschwommenen roten Klecks. Ich renne darauf zu, und Charlie folgt mir, während er verzweifelt fleht: »Mom, Mom, Mom!«
    Als ich hinuntersehe, sind da überall glänzende grüne und braune Scherben. Glas. Kein Seeglas. Neues Glas, scharf und gezackt. Der ganze Strand ist mit zerbrochenen Flaschen übersät.
    »Charlie, bleib stehen! Lauf mir nicht nach!«
    Geschickt weiche ich den Glasscherben aus, während ich weiterrenne. Doch dann höre ich, wie Charlie durchdreht und Jeff lacht, und ich mache einen falschen Schritt. Eine grüne Glasscherbe bohrt sich tief in die Sohle meines linken Fußes. Er tut höllisch weh und blutet stark.
    Ignorier es. Beeil dich.
    Ich erreiche die rote Flagge. Stechmücken schwärmen um meine Nasenlöcher, meinen Mund und meine Ohren, sodass ich spucken und würgen muss. Das ist nicht die Art von Protein, nach der ich mich sehne. Ich bedecke mein Gesicht mit den Händen, halte den Atem an und messe von der roten Flagge aus zwölf Schritte nach Westen ab.
    Dann grabe ich mit den Händen zwischen einem wilden Schwarm Stechmücken, finde den Werkzeugkasten und humpele zurück zu den Treibholzplanken. Dort hockt Charlie und baut eine Burg aus Glasscherben.
    »Charlie, hör auf damit. Du wirst dich schneiden.«
    Aber er hört mich nicht, sondern macht einfach weiter.
    Ignorier ihn. Beeil dich.
    Ich habe das Floß ungefähr zur Hälfte zusammengebaut, als ich die Wölfe heulen höre.
    Lauter. Lauter.
    Beeil dich!
    Das halbe Floß ist nicht stark genug, um uns beide zu tragen. Charlie schreit, als ich ihn hochziehe und von seiner Glasburg wegreiße. Er tritt um sich und trommelt wild auf mich ein, während ich ihn auf das halbfertige Floß verfrachte.
    »Wenn du auf der anderen Seite bist, geh und hol Hilfe!«
    »Mommy, lass mich nicht allein!«
    »Hier ist es nicht sicher. Du musst los!«
    Ich schiebe das halbe Floß aufs Wasser hinaus, und die starke Strömung erfasst es. Sobald Charlie außer Sichtweite ist, beginnen die Wölfe, meine Hose und meine Lieblingsbluse zu zerfetzen, reißen mir die Haut auf und fressen mich bei lebendigem Leib. Jeff lächelt, während ich im Sterben liege, und ich denke: Warum wollte ich dieses idiotische Spiel bloß spielen?
    Mein menschlicher Wecker, mein neun Monate alter Sohn Linus, weckt mich mit einem plärrenden »Baaabaaa!« über das Babyfon, bevor ich sterbe.
    FREITAG
    Auf dem echten Wecker ist es 5.06 Uhr, ungefähr eine Stunde vor der Zeit, auf die ich ihn gestellt habe. Ich finde mich damit ab, jetzt aufzustehen, und schalte den Weckmodus aus. Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal von dem »Biep, biep, biep« aufgewacht
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