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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut
Autoren: Julia Kroehn
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Mitternacht war überschritten, als Lena zu sprechen aufhörte und stumm den Meister bestaunte. Manch einer gaffte, andere schliefen, einige hatten ihre Hände wie zum Gebet verschränkt.
    Das Kindlein war das Letzte, was man hörte, und das Letzte vom Kind war ein raunender, verlöschender Laut.
    Kaum jemand vernahm diesen Laut. Während Grothusen über seinem Wein teilnahmslos rülpste, war Samuel in das Bildnis auf seiner weißen Leinwand versunken und drehte sich nicht um. Doktor Mohr nahm dem Neugeborenen weiterhin Blut ab, und unter seinen Händen wandelte es sich von einem roten,’ schleimigen und blaugeäderten Säugling zu einer wächsernen Puppe mit Wundmalen.
    Lena war die Erste, die das Fehlen des Kindes bemerkte. Zuerst überhörte sie es wie sein Wimmern und rief dagegen an. »Bald haben wir’s erreicht! Ein wenig Blut noch von diesem einen, dann mögen wir das Kindlein in Ruhe lassen und ihm erlauben, sich zu kräftigen! Dann reicht es für ein Bild, das alle anderen übertrifft, das die Menschen zum Erzittern, Weinen, Beben, Schreien bringt!«
    Als Antwort kam nichts als ein neuerliches Rülpsen von Grothusen, dessen Augen rot gerändert waren.
    »Mehr Blut!«, versuchte Lena ein weiteres Mal das verstummte Neugeborene zu übertönen. »Mehr Engelsblut!«
    Doch jetzt war ihre Stimme nicht mehr hoffnungsfroh und mitreißend, sondern sie zitterte. Wegen des zweifelnden Tonfalls hielt Doktor Mohr inne und ließ den Säugling los, den er bis dahin bearbeitet hatte, als wüsste er gar nicht, dass dies ein Kind war. Jetzt neigte er sich vor, um seinen Atem zu spüren.
    »Was ist geschehen?«, fragte Lena und drehte sich um. Sie hatte mit dem Rücken zum Kind gestanden.
    Mit hastigen Bewegungen tastete Doktor Mohr die Brust des Kindes nach einem Herzschlag ab. Er lauschte argwöhnisch, aber hörte nur den eigenen Puls. Unwirsch trat Lena auf ihn zu.
    »Was ist geschehen?«, wiederholte sie.
    Doktor Mohr wollte ihr keine Antwort geben, noch zögerte er zu ergründen, ob das Kind tot sei oder nicht. Dann hob er es hoch, rüttelte es sanft, tastete den geschundenen Körper ab. Seufzend bemerkte er, dass das Kind schön war, überaus schön. Seine Glieder waren vollkommen.
    »Was habt Ihr gemacht?«, rief Lena, noch näher tretend. Das Kind schien wie aus gelbem Wachs. Die Augen waren in ihre Höhlen versunken.
    Hilflos zuckte Doktor Mohr die Schultern.
    »Fasst es doch nicht so hart an!«, rief Lena entsetzt. »Ihr müsst sorgsam mit solch sanften Geschöpfen umgehen!«
    Sie lärmte durch den schweigenden Raum. Andere schlossen sich endlich Lenas Rufen an.
    »Was ist mit dem Kind?«
    »Kommt, Doktor, macht, dass es schreit!«
    »Ihr werdet ihm doch nichts zuleide getan haben! Niemals war es ausgemacht, dass man ihm zu viel des Lebenssaftes nimmt!«
    Samuel schwieg malend.
    »Es lebt doch noch?«, fragte Lena angstvoll. »Es muss doch noch leben! Es wird nichts weiter als eine Ohnmacht sein!«
    Schweißperlen standen dem Doktor auf der Stirn. Eine Haarsträhne hatte sich aus der pomadisierten Frisur gelöst. »Natürlich lebt es«, murmelte er hektisch. »Natürlich! Ich konnte den Herzschlag doch fortwährend fühlen!«
    Entschlossen trat Lena noch dichter zu ihm, um selbst nach dem Kind zu greifen und es ihrerseits nach Lebenszeichen abzusuchen. Bevor sie es erreichte und ihm befehlen konnte, zu leben und zu schreien – wie verloschen das Wimmern auch immer tönte -, warf Grothusen scheppernd sein Weinglas nach hinten, sprang auf und stellte sich ihr in den Weg.
    »Hast es jetzt endlich geschafft, Lenchen?«, fragte er. »Hast dir Samuels Liebe zugesichert, indem du ein Kind mordest?«
    Sie fuhr herum. »Halt dein versoffenes Maul!«, rief sie.
    Schwankend bewegte er sich näher. »Ich höre nichts! Ist es möglich, dass euch das Engelchen entflatterte? Hat einer von euch gesehen, wie es mit seinen goldenen Härchen entwichen ist?«
    »Halt dein Maul!«, schrie Lena erneut. »Das Kind lebt, und Samuel wird in dieser Nacht das Bild eines vollendeten Engels malen! Die Liebe dieses Engels wird die ganze Welt erhellen!«
    Torkelnd hielt sich Grothusen an der Tischkante fest. »Oho!«, lachte er. »Ein liebender Engel! Was ist, wenn Engel nicht lieben? Was ist, wenn du das Kleine getötet hast?«
    Lena vergaß, dass sie das Kind anfassen und zum Schreien bringen wollte. »Du bist ein Verräter!«, ging sie stattdessen brüllend auf Grothusen zu. »Du hast nie an Samuel geglaubt! Heute aber wird er einen Engel
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