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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut
Autoren: Julia Kroehn
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wurde.
    Marie war mit sechzehn Jahren zur Waise geworden – ein selten auftretendes Nervenfieber hatte ihr die Eltern weggerafft. Sie stierte mit blauen Augen in die Welt und war nicht in der Lage, zwischen dem, was gut, und dem, was schlecht war, zu unterscheiden. Sie war wohlerzogen, aber vom Leben wusste sie nicht mehr, als dass es ein blindes Loch voller Gefahren sei.
    Ihr Oheim, ein Geistlicher, der eben Domherr in der Landeshauptstadt Linz geworden war, wurde ihr zum Vormund bestimmt. Er war ins sechzigste Lebensjahr gegangen, blickte auf einen passablen pastoralen Dienst zurück und war mit seinem Dasein zufrieden. Er hatte sich nie in Höhen verstiegen, sich nie in Tiefen verloren, und es deuchte ihn ein sehr gutes Geschäft, auf Glück zu verzichten, um Unglück auszuweichen. Ohne Gefühlsanstrengung glitt er durch den Alltag, ein wenig behäbig, das schon, distanziert gegenüber den leichtfertigen Freuden, aber sämtlichen Tücken ausweichend, und so war er niemals gescheitert.
    Er mied die Menschen, war jedoch geschwätzig genug, um nicht als Sonderling zu gelten; vom Leben forderte er nicht viel, nur manche Annehmlichkeiten – gutes Essen zum Beispiel.
    Mit Gelassenheit begegnete er Säkularisation und Sittenverfall. Manchmal beklagte er, dass nahezu jedes fünfte Kind außerhalb der heiligen Bande der Ehe geboren wurde. Zugleich aber wusste er, dass es ihm nicht oblag zu urteilen, sondern dass der Allmächtige selbst helfend und strafend eingreifen würde. Deswegen sorgte er sich nicht, sondern legte seine schmächtigen Hände vertrauensvoll um Messer und Gabel.
    Als er Vormund der verwaisten Marie wurde, besaß er mit einem Mal eine Familie. Gedankenverloren starrte er auf das Mädchen, fühlte sich zuerst in die Enge getrieben und hub dann gemächlich an, sie zu trösten. Sie jedoch überbrückte hysterisch den Abstand zwischen ihnen beiden, sank auf die Knie und heftete sich zäh an seinen Leib. Ihre schlanken, weißen Finger gruben sich in seine behaarten Unterarme, sodass ihre Nägel sein Fleisch aufschürften.
    Er erschrak über den Schmerz, versuchte, ihre Handgelenke zu umgreifen, mäßig Gewalt auszuüben, sie in die aufrechte Haltung zurückzubefördern. Jedoch während sie heulend vor ihm kauerte, fiel sein Blick auf die dunklen Adern unter ihrer weißen Haut – unheimliche schwarze Würmer, die in dem alabasternen Porzellan wucherten und darunter pulsierten.
    Es wurde ihm bewusst, dass er noch nie in seinem Leben bei einem anderen Menschen die blauen Adern wahrgenommen hatte, die – unter der Haut verborgen – Lebendigkeit durch den Leib hetzen, gleich ob jener, dem dieser Leib von Gott geschenkt war, leben will oder nicht.
    Marie beruhigte sich wieder, wich zurück, wollte sich von ihm lösen. Doch jetzt, da sie es konnte, vermochte er es nicht mehr. Er hielt sie an den Handgelenken fest, drückte die dunklen Adern nieder, fühlte, wie ihm die Haare auf seiner alten Hand zu Berge standen. Er beugte sich vor, um ihren Handrücken zu küssen, traf mit den Lippen jene Stelle, die er eben noch begafft hatte, schmeckte ungläubig und verstört ihre Haut. Mit der Spitze seiner rauen Zunge fuhr er über ihr Handgelenk, erwartete, dass sie kalt wie Marmor sei und säuerlich vom ungelebten Schweiß. Aber er schmeckte nichts.
    Später, beim Abendessen, traf er für sie eine Entscheidung.
    Er beschloss, dass sie in einen Konvent eintreten, Nonne werden und somit dem schönsten und besten Stand zugehören möge, den eine Frau anstreben könne. Er sprach wenig von Jesus und den Seinen, mehr von den Mühsalen des weltlichen Lebens, den Enttäuschungen, das es bereithält, der Arbeit und den Launen unlauterer Menschen. Alldem war er selbst entgangen – und wenn sie ihm folgte, so könne sie darauf zählen, so zufrieden wie er zu werden.
    An diesem Abend war er tatsächlich sehr zufrieden. Marie saß vor einem vollen Teller, ohne zu essen. Er schnüffelte über die Speisen hinweg nach ihr, fragte sich, warum er sich nicht an ihren Geschmack erinnern konnte. Vielleicht hatte er nicht lange genug probiert, vielleicht seine Zungenspitze zu rasch zurückweichen lassen in die Sicherheit seines heißen Gaumens. Jetzt war ihm die Zunge trocken.
    »Du musst etwas essen, Marie«, verlangte er und verhaspelte sich bei dem gut gemeinten Rat, an den er sich selbst nicht hielt. Als Röte in ihre Wangen stieg, überlegte er, ob die Haut in ihrem Gesicht genauso fahl schmecken würde wie ihre geäderten Handgelenke:
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