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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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Autist. Ich musste ihn mit Vorsicht behandeln, durfte nicht unbedacht mit ihm umgehen. Anfangs habe ich nicht begriffen, dass er Alkoholiker war. Er versandete immer mehr, und nach zehn Jahren komplizierter Beziehung habe ich mich von ihm getrennt. Einige Jahre später starb er am Alkohol. Noch ging ich allerdings in Bethel in die Schule.
    Ich war keine gute Schülerin, machte zu viel gleichzeitig: jede Woche Orgelunterricht, Klavierunterricht, Gesangsunterricht, mehrere Chorproben und regelmäßig Orgeldienst. Die Schule kam viel zu kurz. Ich schwankte immer zwischen dem Gefühl völliger Unfähigkeit und der Vorstellung: Ich kann das alles, wenn ich mich nur anstrenge. Aber gerade das gelang mir nicht. Ich war immer müde, hatte oft Kopfschmerzen, Magenschmerzen, konnte nicht schlafen,
war außerdem ständig unglücklich verliebt. Meine Berufsfindungsprozesse waren ein Drama, die Ideen wechselten von Tag zu Tag, das Spektrum reichte von Hebamme bis Mannequin, von Bibliothekarin bis Musikerin, von Fürsorgerin bis zum Studium von Germanistik, Romanistik, Musikwissenschaft, Philosophie oder Psychologie. Ich war beim Abitur 1956 die Einzige, die nicht wusste, was sie werden wollte.
    Es war meine Deutschlehrerin, die mir geholfen hat. Sie hat nicht nur meine Zerrissenheit gespürt, sie hat auch gemerkt, wie mich die ständige Sorge um meine Mutter in Abhängigkeit hielt. Ihr Rat lautete, ich müsse ganz frei werden, mich selbst ausbilden, mich innerlich und äußerlich von meiner Mutter lösen und auf ihren bemitleidenswerten Zustand keine Rücksicht nehmen. Sie ermutigte mich zu studieren, trotz aller Hindernisse und obwohl meine Mutter panische Angst vor dem Tag hatte, an dem ich von zu Hause weggehen würde. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht. Um meine Mutter hatte ich zunehmend Angst. »Sicherlich kann ich ihr nicht helfen, wenn ich hier bliebe, aber ich könnte es verschlimmern, wenn ich weggehe.« Dass ich den Absprung trotzdem schaffte, habe ich nicht zuletzt dieser Lehrerin zu verdanken.
    Der Auszug aus Bethel war tatsächlich eine große Befreiung. Die Anstalt war ein Schutzraum gewesen, aber auch ein Gefängnis. Freiburg, mein erster Studienort, erschien mir wie die ganze Welt und das Studium wie das Paradies. Ich wurde zwar nicht plötzlich zu einem anderen, unbeschwerten Menschen, aber niemand kontrollierte mich mehr. Ich kämpfte gegen die Selbstlähmungen und Erfahrungsmängel an und tat das, was ich mir vorher immer nur vorgestellt hatte.
    In Bethel war mir etwa verboten gewesen, die Haare abzuschneiden. Da hatte ich mir heimlich die Haare an der Stirn abgerissen, um wenigstens einen Pony aufweisen zu können. Und weil ich natürlich keinen Stift hatte, um mir die Augenbrauen zu schminken, habe ich Streichhölzer angezündet und die Brauen mit der Kohle nachgezogen. Das war jetzt vorbei. In Freiburg habe ich mir die Haare gefärbt,
knallrot, das war zu jener Zeit noch ziemlich ungewöhnlich. Als ich später etwas mehr Geld hatte, habe ich nur noch Stöckelschuhe getragen, so dass ich mit acht bis zehn Zentimeter hohen Absätzen zusätzlich zu meinen 1,78 Metern fast alle überragte. Enge Röcke nähte ich mir selbst – Hosen gab es für Frauen leider noch nicht. Die Kleidung war selbstverständlich vor allem schwarz, bis auf rote oder grüne Schuhe. Ich erschuf mich selbst als Bild, als Typ, wollte anders sein, anderes machen, anders aussehen, anderes gut finden als die meisten – und dafür möglichst kein Geld brauchen.
    Ich lebte äußerst bescheiden von dem Geld, das ich in den Semesterferien in verschiedenen Fabriken und im Meinungsforschungsinstitut Emnid verdiente – 87 bis 93 Pfennig pro Stunde. Außerdem bekam ich jetzt eine staatliche Ausbildungsbeihilfe von 85 Mark, für die ich nach jedem Semester so genannte Fleißprüfungen ablegen musste. Ich ernährte mich überwiegend von Haferflocken und dem Mensa-Essen zu 35 Pfennig. Die öffentlichen Verkehrsmittel waren tabu, ich erledigte alles mit dem Fahrrad. Regnete es im Sommer, fuhr ich barfuß zur Universität und verstaute mein einziges Paar Schuhe auf dem Gepäckträger, damit es nicht nass wurde. Mein wichtigstes Kleidungsstück, im Winter wie im Sommer, war eine selbst gestrickte Jacke aus silbergrauem Mohair – deswegen wurde ich »Graue Dame« genannt.
    Dass ich nicht in Kneipen oder Cafés gehen konnte, nicht ins Theater, nicht in Konzerte oder Opern, spielte angesichts der vielen anderen Möglichkeiten gar keine Rolle. Ich
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