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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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hast mich froh gemacht.« Oder: »… wer nur auf diese Zeit/sein Hoffnung weiß zu geben/der führt ein totes Leben/und stirbt in Traurigkeit.« »Mein Herze geht in Sprünge/ und kann nicht traurig sein,/ist voller Freud und singet,/sieht lauter Sonnenschein.« Und: »Auf, auf gib deinen Schmerzen/und Sorgen gute Nacht.« Meine Großmutter hat mir später zu meiner großen Verwunderung erzählt, sie habe abends oft vor meiner Tür zugehört, wenn ich im Dunkeln im Bett lag und stundenlang sang.
    Meine Mutter, ebenfalls eine Musikbegeisterte, hatte mir schon im Alter von fünf Jahren die Anfänge auf dem Klavier beigebracht, anschließend erhielt ich Klavierunterricht bei einer Musikstudentin. Und schon als Kind schlich ich um die Kirche herum, wenn jemand Orgel übte. Ich wollte unbedingt Orgelspielen lernen, und ab fünfzehn, als ich die entsprechende Körpergröße erreicht hatte, bekam ich kostenlosen Unterricht. Das hatte Konsequenzen, denn ich
wurde als Orgelschülerin bald in den Gottesdienst- und Musikbetrieb eingebunden. Mindestens drei Mal die Woche musste ich irgendwo spielen – bei den vielen Gottesdiensten, den Abendandachten und Beerdigungen, später auch bei Orgel- und anderen Konzerten. Ein Jahr vor dem Abitur bekam ich auch noch Gesangsunterricht.
    Ich habe Bethel also viel zu verdanken, an einem anderen Ort wäre das alles nicht möglich gewesen. Die Musik wurde eine Art Überlebensmittel, sie war ein Ort der Konzentration und des Rückzugs und zugleich ein öffentlicher und ein sozialer Ort. Vor allem aber schuf die Musik einen Zugang zu einer transzendenten Welt, die über die alltägliche Enge hinausführte und das armselige Leben vergessen ließ.
    Vom Wirtschaftswunder haben wir überhaupt nichts mitbekommen. Wir hatten keinen Kühlschrank, keinen Staubsauger, keinen Elektroherd, kein Telefon, auch keine Zeitung, ein Radio erst 1954. Der Mangel war uns aber gar nicht bewusst, denn die meisten Menschen in Bethel hatten nur wenig. In der Anstalt herrschte eine andere Orientierung, das Streben nach Konsum und materiellen Gütern fanden wir überflüssig oder sogar degoutant. Ich weiß nicht, ob das einfach Abwehr war, eine »Saure-Trauben-Reaktion«. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass wir frustriert oder neidisch waren, wenn andere etwas hatten, was wir uns nicht leisten konnten. Es interessierte uns einfach nicht.
    Ich hatte Freude an Dingen, die nichts kosteten. Zum Beispiel habe ich Listen angefertigt, wann welche Vögel im Frühjahr auftauchten und wann sie im Herbst wieder abzogen, habe Blumen und Gräser nach der Natur gezeichnet, seitenlang Noten abgeschrieben und Gedichthefte angelegt. Und ich war hingerissen von den schönen Buchen im Mai und im Oktober. Dabei sehnte ich mich ständig nach Gesprächen mit anderen Menschen, die zu führen wegen meiner Schüchternheit allerdings immer wieder an Grenzen stießen.
    All das findet sich in meinen Tagebüchern, in denen ich seit meinem dreizehnten Lebensjahr täglich alle Erlebnisse, Gedanken und
Kümmernisse dokumentiert habe. Es gab in Bethel einen einzigen, ärmlich ausgestatteten Laden, und wenn ich dort Papier kaufen wollte, sagte die Verkäuferin jedes Mal: »Dieses Heft ist gerade das letzte.« Damit möglichst viel auf eine Seite passte, entwickelte ich eine winzige Schrift, die außer mir kein Mensch lesen konnte und die ich selbst heute kaum noch entziffern kann.
    Ich quälte mich mit Fragen nach dem Sinn des Lebens. Ich wollte wissen, ob feste Fundamente und klare Wegweiser eigentlich unentbehrlich sind oder ob wir einfach unseren Gefühlen trauen können. Trotz des frommen Umfelds fand ich zum Glauben keinen rechten Zugang. In den Predigten war immer wieder die Rede von der »Kraft des Bösen«, von der »Erbsünde«, der »Schuld des Menschen«, der »zu tragenden Last«. Ich sah mich konfrontiert mit einem Unheil ohne Ursache, gegen das ich mich sperrte. Nur störrisch habe ich das Sündenbekenntnis mitgesprochen: »Ich armer, sündiger Mensch bekenne, dass ich gesündigt habe mit Gedanken, Worten und Werken, auch in Sünden empfangen und geboren bin …« Warum ich sündig geboren sein und eine schreckliche Erbsünde in mir tragen sollte, leuchtete mir nicht ein, ebenso wenig die meisten religiösen Rituale und kirchlichen Auslegungen.
    Einmal diskutierte ich meine Zweifel mit einer Schulfreundin, die ebenfalls vaterlos war. Wir saßen – wie immer in den Schulpausen  – auf einer Friedhofsbank unter großen
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