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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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las in Bibliotheken oder im Park, ich hörte Vorlesungen in verschiedenen Fächern und schrieb akribisch mit, auch das, was ich nicht verstand. Ich hatte wieder Gesangsunterricht und war im Motettenchor der Musikhochschule. Ich hatte, bevor ich meinen Freund kennen lernte, viele hilfreiche Kumpelverhältnisse. Einer schenkte mir einen gebrauchten Plattenspieler und die ersten Platten – Monteverdi, Bartók, Chopin – und einen Tauchsieder. Mit einem anderen radelte ich an Wochenenden durch den Schwarzwald, mit dem nächsten fuhr ich mit dem Motorrad zum Kaiserstuhl, um Nachtigallen zu hören. Ein anderer erlaubte
mir, ab und zu auf seinem Klavier zu üben. Auf den Teeabenden – geselligen Treffen von Professoren und Studenten am Ende eines jeden Semesters – habe ich öfter Chansons gesungen: »Illusionen … sind das Schönste auf der Welt … Illusionen sich verlohnen ohne Zweck und ohne Sinn, nur nicht denken, sich verschenken, denn wer weiß, wo ich schon morgen bin!« Oder Songs mit selbst gedichteten Texten auf die jeweiligen Professoren: »Schade, ach schade, alles nur Schein, jede Fassade fällt einmal ein.«
    Nach anfänglichen Irrungen landete ich im Studiengang Psychologie, der damals noch neu und wenig festgelegt war. Schon als Anfängerin wagte ich kritische Einwände. Ein Professor gestand mir einmal nach einigen Gläsern Wein, meine Bemerkungen hätten ihn nicht nur einmal in Verlegenheit gebracht.
    Geschadet hat mir die kritische Haltung nicht, es taten sich immer wieder neue Türen auf. Ich war leicht zu begeistern und ließ mich von verschiedensten Studieninhalten faszinieren. Nach dem Diplom wurde ich ermuntert zu promovieren, eine Aussicht, auf die ich selbst nicht gekommen wäre. Aber ich hatte eine Promotionsidee, und mit dieser erhielt ich ein Stipendium bei der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Das war damals äußerst komfortabel, und so kam ich Schritt für Schritt vorwärts, ohne von besonderem Ehrgeiz getrieben oder von speziellen Berufszielen gezogen zu sein. Um mich herum herrschte Aufbruchstimmung, an Arbeitslosigkeit dachte niemand. Berufliche Selbstständigkeit war eine Selbstverständlichkeit. Mein Leben war im wörtlichen Sinne ungebunden, und ich fühlte mich vollkommen gleichberechtigt.
    Nicht einmal meine Wirtinnen, bei denen ich, wie damals üblich, als Untermieterin in einem kleinen Zimmer wohnte, haben mich irgendwie eingeengt. Ich hatte häufig Männerbesuch, von Studienkollegen, später von meinem Freund, und nicht ein einziges Mal wurde das mit dem Verweis auf den Kuppeleiparagraphen untersagt. Dabei konnte ja bis 1969 noch bestraft werden, wer Gelegenheit zur »Unzucht« verschaffte. Meine Wirtinnen waren da eher großzügig, oft auch neugierig. Vor meinem Freund, einem höflichen und
zurückhaltenden Menschen, der gut mit älteren Frauen umgehen konnte, hatten sie richtig Respekt und luden uns öfter zu Kaffee und Kuchen ein. Ich glaube, vieles war möglich, wenn man es selbstverständlich machte. Diese Selbstverständlichkeit habe ich damals als bewusstes Gegenprogramm zu meiner alten Schüchternheit entwickelt: ohne besondere Rücksicht auf herrschende Konventionen das zu tun und zu sagen, was ich für richtig hielt.
    Für meine Schwester dagegen sind die fünfziger Jahre so restriktiv gewesen wie ihr Ruf. Sie bekam 1959 als Junglehrerin im Sauerland ein uneheliches Kind. Meine Mutter unterstützte sie trotz anfänglichen Entsetzens, trotz Abwendung eines großen Teils der Verwandtschaft und riesiger Vorbehalte seitens der Umwelt. Sie zog zu ihr und blühte mit der neuen Aufgabe bald richtig auf. Meine Schwester hatte sich das Kind gewünscht, konnte aber mit dem Erzeuger nicht zusammenleben. Er war verheiratet. Für ihr Umfeld war das Kind ein nachhaltiger Fehltritt. Die Schulleitung leitete ein Disziplinarverfahren ein. Meine Schwester wurde in die nächste Großstadt versetzt mit der Auflage, so entfernt wie möglich von der zugeteilten Schule zu wohnen, damit die Schüler ihr nie mit dem Kind begegnen könnten. Als sie sich anfangs an einen Pfarrer um Hilfe bei der Suche nach einer Tagesmutter wandte, wurde sie abgewiesen: »Im Prinzip helfen wir berufstätigen Frauen bei der Kinderbetreuung gern, aber nicht im Fall eines unehelichen Kindes. Dafür ist die Kirche nicht da.« Sie erfuhr immer wieder Diskriminierungen als ledige Mutter, lebte im Bewusstsein des Ausgegrenztseins, wenn auch mit Stolz auf ihren Mut. Wie sich erst Jahrzehnte später anhand
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