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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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vergessener Briefe herausstellte, war die Diskriminierung allerdings weniger durchgängig, als es sich in ihrer Erinnerung festgesetzt hatte. Eine Nachbarin aus Bethel hatte ihr zum Beispiel geschrieben: »Sie sind jetzt allein verantwortlich – welch eine Würdigung!«. Und der Betheler Gemeindepfarrer hatte ihr in einem vierseitigen, handgeschriebenen Brief in warmherzigen Worten zur Geburt ihres Sohnes gratuliert: »Es gibt nichts Schöneres als ein neues Kind« und seine Hilfe angeboten. Warum hat
meine Schwester diese positiven Reaktionen vergessen? Wäre ihr Leben vielleicht anders verlaufen, wenn sie solche Stimmen wahrgenommen hätte?
    Politik hat mich in den fünfziger Jahren wenig interessiert. Ihr haftete noch der Geruch eines schmutzigen Geschäfts an, dem ich mit Misstrauen begegnete. Ich hielt zwar die Umerziehungsprogramme der amerikanischen Besatzung für wegweisend und beneidete alle Austauschschüler und -studenten, die zu einem USA-Aufenthalt reisen konnten. Aber »Demokratie« war für mich noch ein ziemlich leeres Wort. Das wichtigste Wort war »Freiheit«. Ich war fasziniert von existentialistischen Ideen, von der Vorstellung, dass man sich von Wurzeln und Herkünften selbst entbinden kann, dass man neu anfangen und handeln kann und dafür die volle Verantwortung übernehmen muss. Das heißt natürlich nicht, dass die Fähigkeiten der »Selbsterschaffung« unbegrenzt sind. Aber die Freiheitsidee macht Möglichkeiten sichtbar, die verstellt bleiben, wenn man sich in erster Linie von unterdrückenden Verhältnissen determiniert und als Opfer äußerer Mächte sieht.
    Seit 1962 arbeitete ich in West-Berlin als Assistentin, dann als Assistenz-Professorin am Psychologischen Institut und schließlich als Professorin im Fachbereich Erziehungswissenschaften der Technischen Universität. Meine Politisierung entzündete sich am eigenen Arbeitsbereich. Es war die Kritik am mangelnden Gesellschaftsbezug der damaligen Psychologie, durch den die Probleme der einzelnen Menschen immer wieder im psychischen Mikrokosmos gefangen blieben.
    Mein Freiheitsverständnis war weder antikommunistisch noch kommunistisch und fand sich weder im konservativen Slogan »Freiheit statt Sozialismus« wieder noch im linken »Lieber rot als tot«. Das Studium marxistischer Klassiker weckte zwar Sympathie für die sozialistische Idee, aber meine Sympathie für die DDR blieb verhalten. Den enttäuschenden und bedrückenden Erfahrungen, die sich auf den Transitstrecken und bei privaten Besuchen regelmäßig wiederholten, wollte ich damals jedoch nicht wirklich nachgehen, denn
mit dem Ergebnis wäre man sofort auf die rechte Seite des Politiksystems katapultiert worden.
    Mit einigen Kadern der kommunistischen Studentenorganisationen war ich anfangs noch befreundet. Aber meine Distanz wuchs, je dogmatischer und floskelhafter ihr Auftreten wurde. Es waren Nötigungen, Einschüchterungen und Totschlagargumente, eine Ideologieversessenheit, die nur eine Richtung des Denkens gestattete, eine Faschismuskritik, die schließlich Gewalt gegen das »System« rechtfertigten sollte.
    Das war nicht das, was ich wollte.
    Ich schloss mich der Frauenbewegung an und gründete Mitte der siebziger Jahre den Studienschwerpunkt »Frauenforschung«, der zu einem Sprachrohr vielfältiger Proteste und zu einem feministischen Sammelpunkt wurde. Dabei ging es nicht um Geschlechterbiologie, sondern um eine umfassende Gewaltkritik.
    Die feministische Kritik am Ausschluss der Frauen und die Überzeugung von ihrem nicht realisierten Potential provozierte einen ungeahnten Diskussions- und Arbeitseifer, auch heftige Kontroversen, ein Themenspektrum, das geradezu unendlich war. Es war eine euphorisierende Erfahrung von Selbstermächtigung und Mut, die Erfahrung, dass man selbst Initiative ergreifen und mit anderen handeln kann. Viele sagen im Nachhinein: »Das war die lebendigste Zeit meines Lebens.«
    Die Wende 1989 brachte dann noch einmal eine deutliche Zäsur. Viele Studierende kamen jetzt aus der DDR, und es stellte sich schnell heraus, dass die meisten von ihnen mit dem Feminismus nicht viel anfangen konnten. »In der DDR hatten wir Gleichberechtigung«, hieß es immer. Dass es im Feminismus um viel mehr ging, war schwer zu vermitteln. Ich fand es falsch, ihnen »unsere« Positionen einfach vorzusetzen, und suchte nach einem Weg, gleichberechtigt an einem Stoff zu arbeiten, der für beide Seiten herausfordernd und neu war. Das führte zu einer jahrelangen
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