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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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voll mit Mädchen. Nach dem Krieg gebe es so viele Witwen, sagte Shimon – wir sagten damals alle Shimon zu ihm, das war sein zweiter Vorname –, irgendjemand müsse ihnen doch helfen, neue Partner zu finden. Er war ein irrer Typ. Jeden der sechs Räume vom »Old Eden« hatte er anders gestaltet. In einem gab es Jazz, im anderen wurden Dias vom Playboy gezeigt, in einer Cocktail Lounge Cocktails und Champagner für die Betuchteren gereicht. Hier stand auch ein Flügel, auf dem zu vorgerückter Stunde dieses oder jenes Filmsternchen tanzte.
    Ins »Old Eden« kamen auch die Neureichen aus Westdeutschland. Einmal tauchte ein Sugardaddy aus Bayern auf, der in Berlin seine Mieze oder Dauerfreundin ausführte. Er knallte Toby einen
Hunderter aufs Piano: »Sei’n Se doch mal so nett und spiel’n Se für meine Süße die ›Rose vom Wörthersee‹.« Und Toby: »Dann sei’n Se doch mal so nett und verschwinden mit Ihrem Hunderter. Hier gibt es nämlich nur Jazz.« Der Typ beschwerte sich sofort bei Eden, und Rolf Shimon Eden, der ja viele Jahre als Pianist in Bars gespielt hatte, setzte sich selbst ans Klavier – und spielte die »Rose vom Wörthersee«. So war er.
    Anfang der sechziger Jahre kam allerdings die Zeit, wo Jazz nicht mehr so gefragt war. Da schwappte die Beat-Welle aus Amerika rüber. Manche Lokale stellten ihr Programm völlig um. Toby konnte vom Jazz nicht mehr leben. Für so einen Vollblutjazzer wie ihn war es unerträglich, irgendwelche lasche Unterhaltungsmusik zu spielen. Viele Musiker, die nebenbei noch ihr Studium absolviert hatten, zogen sich damals zurück und widmeten sich ihren Berufen. Andere ernährten sich von dem, was Toby strippen nannte. Sie wurden für Hochzeiten, Betriebsfeiern, Veranstaltungen gebucht und spielten, was gefiel. Da hat Toby immer gesagt: »Nee, Biba, da mache ich nicht mit.« Er nannte mich doch Biba – von »Be-Bop-A-Lula – She’s my baby«, dem Song, den erst Gene Vincent gesungen hat und danach Elvis Presley und viele andere. Die einzige Konzession, die Toby je an den Kommerz machte, war eine Singleaufnahme bei Bertelsmann  – aus Geldnot nahm er den Titel »Tutti Frutti« von Little Richard auf. Später war ihm das regelrecht peinlich, und er hat mir von diesem »Fehltritt« erst kurz vor seinem Tod erzählt.
    Die Frage war damals, wovon wir uns ernähren. Am wichtigsten für uns war, dass wir zusammenbleiben wollten, auch tagsüber, egal, womit wir unsere Brötchen verdienten, und dass Toby weiter seine Musik machen konnte, wann und mit wem er wollte.
    Da lasen wir eines Tages, dass eine Fahnenfabrik in Wedding Kräfte zur Ausbildung als Stoffdrucker suchte. Die machten Siebdruck, alles in Handarbeit. Toby akzeptierten sie sofort, einen kräftigen Mann, mich wollten sie nicht. Ich wog damals 47 Kilo. »Könnten Sie mich nicht wenigstens mal vier Wochen zur Probe anstellen?«, habe ich gefragt. Sie stellten mich zur Probe an und
übernahmen mich. Wir wurden das Druckerteam der Firma: Die Kleene mit dem Langen. Nach zweieinhalb Jahren Ausbildung durften wir uns Stoffdrucker nennen. Nach fünf Jahren mussten wir die Siebdruckerei allerdings aufgeben, denn Toby reagierte allergisch auf die Hoechst-Farben. An den Handgelenken bildeten sich Blasen, die wie verrückt juckten.
    1970 haben wir deshalb bei der Post angefangen, wieder gemeinsam. Zunächst nur als Aushilfe zu Weihnachten. Aber als die Personalabteilung bei der Einstellung die Papiere sah, war sie verwundert: Der Mann hat Abitur, die Frau hat mittlere Reife, warum arbeiten die als Aushilfe? Sie boten uns eine feste Stelle an und verführten uns mit der Versicherung: »Sie können jederzeit wieder gehen. Die Kündigungsfrist beträgt drei Monate.«
    Wir führten ein Doppelleben. In der Woche lebten wir für den Broterwerb, an den Wochenenden für den Jazz. Es begann am Freitagabend. Entweder war unsere Wohnung voll mit Freunden oder wir waren irgendwo unterwegs. Am Sonntag gab es regelmäßig ein Frühstück bei uns, und dann gingen wir mit unseren Gästen zum Jazz.
    Eines Tages Anfang der 1990er Jahre bekam Toby Schmerzen auf der linken Seite zwischen Ohr und Mandel. Sehr bald stellte sich heraus, dass es sich um einen bösartigen Tumor handelte. Wir bekamen die Chance, einen kurzen Urlaub auf Ibiza zu verbringen. Danach folgte eine große, neunstündige Operation in einem Wilmersdorfer Krankenhaus. Als die lange Bestrahlungszeit vorbei war, fuhren wir für sechs Wochen an die Ostsee. Kaum zurück in
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