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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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in eines dieser Lokale gefahren, weil die »Eierschale« ja bereits um 24 Uhr dichtmachte.
    Mein Vater, der Staatsanwalt, wollte sich nicht damit abfinden, dass seine Tochter mit einem Jazzmusiker enger befreundet war. Er hat Recherchen angestellt und sehr schnell herausgekriegt: Toby hat ein Haus in Zehlendorf, ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Scheidung. Und – das war das Schlimmste – Toby ist zwölf Jahre älter als seine Tochter. Darum ging es ständig: »Was will der Mann, der so viel älter ist und eigentlich eine Familie hat, von meiner Tochter?«
    Mein Vater gab uns keine Chance. Das war es, was ich – oder besser – was wir ihm vorwarfen. Viel später, als sich meine Eltern trennten, wurden Toby und mein Vater die besten Freunde. Sie spielten zusammen Schach, hörten Klassik und musizierten zusammen auf dem Cembalo. Denn auch das gehörte zu Tobys Leidenschaft: Er liebte Bach und italienische Barockkomponisten wie Corelli und Vivaldi. Mein Vater hat sich damals bei Toby für seine Borniertheit entschuldigt, aber welchen Kummer und wie viel Leid hätten wir uns alle ersparen können, wenn er zuvor ein wenig Weitsicht und Großzügigkeit gezeigt hätte.
    Ich habe damals fast schizophren gelebt.
    Mein Vater war Mitglied einer schlagenden Verbindung. Einmal im Jahr hieß es »Wir gehen aufs Haus«. Am Anfang der Saison wurde ein riesengroßer Ball mit vielleicht 600 Personen in den Räumen der Landesloge in der Nähe vom Nollendorfplatz veranstaltet. Meinen Zwillingsbruder hat das nicht interessiert, ich aber war neugierig. Mit siebzehn oder achtzehn wurde ich Couleurdame, das
heißt, ich wurde eingeführt in die Gesellschaft und erhielt eine Schleife in den Farben der Verbindung.
    Meine Eltern hätten gern gesehen, wenn ich einen der Leibfüchse als Freund gehabt hätte, also einen jener Studenten, die frisch in die Verbindung aufgenommen waren und sich bei derartigen Bällen um uns Frauen zu kümmern hatten. Dann knallten sie zackig die Hacken zusammen: »Gnädiges Fräulein, darf ich Ihnen etwas zum Trinken bringen?« Und ich huldvoll: »Ja gern, einen Eierlikör.«
    Ich hatte dort ein paar Verehrer, weil ich fröhlich war und nicht steif. Außerdem tanzte ich gern. Vor allem nach Mitternacht, wenn die Kapelle auch mal einen Rock ’n’ Roll oder Boogie spielte. Auf den Bällen konnte ich zudem die modischen, ganz weiten Röcke tragen und darunter möglichst drei rüschenbesetzte Petticoats, die ich immer durch einen Eimer mit Hoffmanns Stärke zog und an einer Leine im Badezimmer trocknen ließ. Einmal trug ich unter meinem türkisfarbenen Kleid einen dicken, gestärkten Leinen-Petticoat von meiner Freundin. Unten war ein Fischbeinring eingezogen, so dass er sich spreizte wie eine Krinoline. Dann passierte das Malheur. Beim Walzer oder Foxtrott schob mein Tanzherr sein rechtes Bein zwischen meine Beine, drückte dabei den Petticoat samt Fischbeinring nach hinten und nach oben – und alle konnten unter meinen Rock sehen. Beim nächsten Schritt senkte sich die Krinoline zwar, doch beim übernächsten hob sie sich wieder. So ging das vier, fünf Mal. Bis sich der Knopf löste, der den schweren Leinenunterrock in der Taille hielt und die ganze Pracht nach unten sank. Meine Mutter war immer unheimlich cool, sie gab mir nur ein Zeichen mit dem Finger: Nimm das Ding wieder hoch. Ich stieg also aus dem Petticoat, nahm ihn über den rechten Arm, und mein Tanzherr führte mich galant hinaus zur Garderobe, wo eine Frau saß, die Nähzeug hatte und mir den Knopf annähte. Damals war mir der Vorfall unheimlich peinlich, heute kann ich darüber lachen.
    So manches hat mich an der Verbindung befremdet. Etwa dass Mensuren gefochten wurden – auch mein Vater hatte einen Schmiss
im Gesicht. Oder dass am Tage nach dem Ball beim sogenannten Abtrunk »Salamander gerieben« wurde. Dazu standen alle Bundesbrüder auf, erhoben ihre riesigen Biergläser, und sobald das Kommando »Ad exercitium salamandri« ertönte, setzten sie an und tranken den Liter möglichst in einem Zug. Danach wurden die leeren Gläser lautstark auf den Tischen gerieben und schließlich – wieder auf Kommando – mit großem Krach abgestellt. Die rauen Lieder und die vertonten Wirtinnen-Verse wurden glücklicherweise nicht gesungen, wenn Damen dabei waren. Aber die kannte ich von den Studenten. Das war schon sehr heftig, was da losging.
    Mein Traum war es, Goldschmiedin zu werden. Ich habe mich bei der Hochschule für Bildende
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