Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
Vom Netzwerk:
Bühne war nicht größer als ein etwas größeres Wohnzimmer. An Tanzen war nicht zu denken, die Leute standen Fuß an Fuß. Deswegen war der »Rührstil« kreiert worden. Dabei blieben die Paare auf der Stelle stehen und kreisten nur mit den Händen zweimal von rechts nach links, einmal von links nach rechts. Und wieder: Zweimal von rechts nach links, einmal von links nach rechts.
    Ja, und dann stand Toby auf der Bühne und sang Blues. Ein großer, schlanker Mann mit dunklen Haaren, ganz in sich versunken, die Augen geschlossen. Wie ein Drummer, der eine Riesensession macht, bei der er alles vergisst. He was absolutely in . Ich hatte keine Ahnung von Blues, aber ich war hingerissen. Später würde der Jazzkritiker Joachim-Ernst Berendt schreiben, eigentlich sei nicht recht zu fassen, wie ein weißer Musiker so authentisch »black« spielen könne wie Toby. Und der Posaunist Hawe Schneider, eine Art Bandleader, erklärte ganz ähnlich, Toby Fichelscher habe so gesungen, wie er es bis dahin nur von Schwarzen gehört hätte.
    In der Pause wurde Toby umringt von Mädchen mit schwarz umrandeten Augen und rosa Lippen. Viele kamen nur seinetwegen; »Tobizen« nannten seine Bandkollegen diese Fans etwas verächtlich und etwas neidisch. Tja, und an jenem Abend sprach er ausgerechnet mich an: Er hätte mich hier noch nie gesehen. Und wenn er mich gesehen hätte, wäre ich ihm schon wegen der blauen Augen aufgefallen …
    Irgendwie fühlte ich mich geschmeichelt, aber gleichzeitig befand ich mich in Abwehrhaltung. Er könne mich auch gar nicht gesehen haben, gab ich etwas schnippisch zurück, denn ich sei noch nie dagewesen, und fügte von oben herab hinzu: »Ich weiß schon, Sie sind hier der Hahn im Korb!«
    Es muss ihm wohl gefallen haben, dass ich so kess war, jedenfalls lud er mich zu einem Drink nach der nächsten Session an die Bar ein. Ich bin auch hingegangen. Er kam – und die anderen haben geguckt: Was ist denn das für eine Zicke?

    Bild 26
    Toby Fichelscher war der Star der Dixieland-Band »Spree City Stompers« – ein Weißer, der den Blues beherrschte wie ein Schwarzer. Die Mädchen erlagen reihenweise seinem Charme und seiner Stimme, wenn er in der »Eierschale« auftrat, Berlins wohl berühmtestem Jazzlokal der 1950er Jahre. Welche Entbehrungen er später auf sich nahm, um seiner Leidenschaft zum Jazz weiter nachgehen zu können, wissen nur die engsten Freunde.
    Bis zu unserer nächsten Begegnung verging allerdings fast ein halbes Jahr. Die Pächterin der »Eierschale«, die den Spitznamen »Mutti« trug, hatte mich eingeladen, ihren Geburtstag nach Lokalschluss gemeinsam mit Musikern und Personal zu feiern. Da saß ich nun etwas verloren auf meinem Barhocker, vor mir ein Bier, um mich die gestärkten Röcke drapiert. »Mal sehen, ob die Strümpfe trägt!«, meldete sich hinter mir einer der jungen Musiker, denn ich hatte sehr braune Beine, und begann, an meinem Petticoat herumzufummeln. Mein Protest half nicht, auch nicht eine Drohung mit dem Bierglas. Da goss ich mit Schwung das Bier hinter mich – und bekam sofort eines retour über den Kopf. Der Gerstensaft tropfte mir aus den Haaren und lief hinunter in den Ausschnitt. Gerade drückte ich mir das Bier mit einem Küchenhandtuch aus der Bluse, als Toby erschien: »Was ist denn mit Ihnen passiert?«
    Es ärgerte mich unglaublich, dass er mich so sah. Ich wollte nur noch weg. Da beruhigte er mich: »Ich rate Ihnen, sich einfach mal zu mir zu setzen. Da geschieht Ihnen nichts.« Und seiner Band rief er zu: »Jungs, diese Frau steht ab jetzt unter meinem Protektorat!«
    Donnerwetter, dachte ich, der drückt sich aber gewählt aus! Jedenfalls ließ ich mich besänftigen, rutschte ran zu ihm, und wir unterhielten uns. Später brachte er mich nach Hause, das heißt bis an die Ecke zur Rückertstraße. Da habe ich gesagt: »Hier müssen Sie umdrehen, meine Mutter guckt bestimmt aus dem Fenster.« Es war schon weit nach elf.
    Danach trafen wir uns auch am Tage; oft waren wir im Museum Dahlem oder bei Freunden von Toby. Wir wollten nicht gesehen werden, Bekannte sollten meinen Eltern nichts verraten. Im Sommer fuhren wir nach seinem Auftritt auch oft mit Freunden an die Krumme Lanke, einen langgestreckten See in Berlin-Zehlendorf. Wir schwammen alle nackt, und irgendwer hatte immer was zum Trinken organisiert. Damals beschloss ich, die vorgegebenen Zeiten meines Vaters zu boykottieren. Wenn die Anderen mit ihren Autos
zurückfuhren, blieben wir im Wald in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher