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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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irgendeiner Schonung. Das war romantisch, gegen Morgen allerdings auch ziemlich kühl. Aber was machte das schon, wir waren sehr verliebt.
    Ich war fasziniert von diesem Mann, der so anders war als alle anderen, die ich kannte. Er trug Jacketts mit großen gelb-schwarzen Karos wie Marlon Brando, hielt in der einen Hand meistens eine Zigarette und in der anderen ein Glas mit Whiskey. Jazz sei nicht nur eine Musikrichtung, sagte er immer, sondern auch eine Lebenseinstellung. Als wir einmal im »Wienerwald« saßen, bat er sofort um eine Kerze. Und der Kellner: »Na watt denn, iss Ihnen det nich hell jenuch hier?« Es war nämlich Sommer. »Doch«, sagte Toby, »aber ich habe heute Geburtstag.« So hatte er immer Geburtstag.
    Selbst dem Schweren verstand er, etwas von seiner Schwere zu nehmen. Als die erste Frau von dem DDR-Musikwissenschaftler und Jazzliebhaber Josh Sellhorn starb, erklärte sich Toby sofort einverstanden, am Grab ihr Lieblingslied zu singen: »Nobody knows the trouble I’ve seen«. Allerdings musste er der kommunalen Friedhofsleitung in Ost-Berlin erst überzeugend vorlügen, dass es sich um ein altes schottisches Volkslied handele, da offensichtlich sogar Spirituals als amerikanische Unkultur galten.
    Toby brauchte kein Geld für ein besonderes Leben. Er kaufte auf dem Rummel einfach eine Wundertüte für zehn Pfennig mit einem ganz kleinen Kinderring – und ich habe mich riesig gefreut. Er kam auch nie ohne Blume, selbst wenn er sie irgendwo wegborgen musste. Seine Schwester sagte mir, das habe er von seiner Mutter geerbt. Beide Eltern waren ja Künstler. Der Vater leitete verschiedene Theater in Potsdam und Berlin und schrieb Stücke und Drehbücher; die Mutter arbeitete als Modezeichnerin bei der mondänen Zeitschrift Silberspiegel . Leider ist diese ungewöhnliche Frau sehr früh verstorben. Als ihr Haus gegen Kriegsende von einer Bombe getroffen wurde, konnten sich ihre beiden Kinder gerade noch in den Luftschutzraum im Keller retten. Sie selbst wurde auf der Kellertreppe von einer einstürzenden Wand getroffen. 1948 ist sie an den Folgen des offenen Rückens gestorben.

    Toby hat sehr unter dem Tod der Mutter gelitten. Er hatte sein Zuhause verloren, denn der Vater war viel beschäftigt. Irgendwie schlug er sich durch, zeitweilig verdiente er sein Geld als Übersetzer bei den Amis. Auf diese Weise kam er in die Clubs der amerikanischen Soldaten, wo die neuesten Hits von Ella Fitzgerald, Louis Armstrong oder Big Joe Turner gespielt wurden und amerikanische Bands mit Swing und Blues auftraten. Toby war schon damals ein großer Jazzfan. In der Nazi-Zeit hatte er amerikanische Platten gehört, die Freunde seiner Eltern aus Frankreich geschmuggelt hatten, auch die Jazzsendungen vom Landessender Beromünster aus der Schweiz – unter der Bettdecke, damit der Nachbar es nicht mitbekam. Nach dem Krieg hörte er AFN, den amerikanischen Rundfunk in Berlin, der zuerst von einer mobilen Sendestation auf einem Lkw sendete.
    Toby hatte als Kind zwar Klavierunterricht erhalten. Seine Leidenschaft für das Piano entstand allerdings erst, als er merkte, wie gut er mit diesem Instrument jene Musik umsetzen konnte, die ihm lag und die er liebte. Eine Zeitlang spielte er mit Rafi Lüderitz vierhändig Boogie Woogie, davon erzählen manche Leute noch heute. Auch Rafi hatte die Musik im Blut. Er stammte aus einer Zigeunerfamilie und hatte den Krieg zusammen mit seinem Vater in einem Versteck überlebt. Die beiden sahen verwegen aus bei ihren Auftritten, vollständig im Ami-Look – in bunten Hawaii-Hemden und mit Crew Cut.
    Rafi stieg später auf Schlagzeug um und ging nach Paris und dann in die USA. Toby war und blieb in Berlin. Er spielte in der »Kajüte«, einem Kellerlokal in einer Ruine am Rathaus Schöneberg. Als dieser Ort wegen Einsturzgefahr und Lärmbelästigung aufgegeben wurde, zog er mit den anderen Jazzern in die »Eierschale«. Bei den »Spree City Stompers« trat er vor allem als Sänger auf, Mitte der fünfziger Jahre gewann er auf den Jazzfestivals in Frankfurt zweimal einen Preis. In der eigenen Blues Combo spielte er auch Piano, Schlagzeug und Bongo – aus Verehrung für Chano Pozo, den kubanischen Kongaspieler, der 1948 erschossen worden war. Toby gehörte außerdem zu den ganz wenigen, die das schwierige blue blowing
beherrschten. Dabei wird so in die Hände vor dem Mund geblasen, dass es klingt wie eine Trompete. Als er diese Fähigkeit einmal einem Jazzliebhaber in einem vornehmen
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