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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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Künste beworben und die Aufnahmeprüfung auch glänzend bestanden. Als Tochter eines Staatsanwalts erhielt ich allerdings kein Stipendium. Meinem Vater wäre es lieber gewesen, ich hätte Abitur gemacht, Medizin studiert und einen Mediziner geheiratet. Gegen »das Künstlerische« erhob er nach bestandener Aufnahmeprüfung allerdings keine prinzipiellen Einwände mehr, machte seine finanzielle Unterstützung allerdings von zwei Bedingungen abhängig. Erstens: Du triffst dich nicht mehr mit diesem Sänger. Zweitens: Du bleibst, solange du nicht volljährig bist, zu Hause wohnen!
    Da habe ich gesagt: »Ich fange nicht mit einer Lüge an. Ich weiß schon jetzt, dass ich weder das Eine noch das Andere einhalten werde.«
    Ich wollte Toby unbedingt weiter sehen, er war meine große Liebe geworden. Außerdem hatte ich eine süße Mansardenwohnung in Aussicht. Da wohnte ein Student, der nach Zeuthen zurückgehen wollte – noch waren ja Ostdeutsche in West-Berlin zum Studium. Die Mansarde wäre frei geworden und hätte nur 35 Mark gekostet.
    Da ich ohne das Geld meines Vaters die Ausbildung zur Goldschmiedin nicht beginnen konnte, entschied ich mich für einen ganz anderen Weg. Ich ging nach der mittleren Reife von der Schule ab und machte nach Zwischenstationen in einer Handelsschule und dem Pestalozzi-Fröbel-Haus eine Ausbildung als medizinisch-technische
Assistentin. Wenn auch mit großem Stress lebte ich immer noch bei meinen Eltern.
    Dann ging alles plötzlich sehr schnell. Wieder einmal hatte ich gesagt, ich würde bei meiner Freundin übernachten. Die war inzwischen verheiratet und lebte ohne Telefon in Wannsee. Am nächsten Tag fragte mein Vater: »Also du meinst, du seiest bei deiner Freundin gewesen?« Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er sich auf den Weg macht und bis Wannsee fährt! Das war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich hatte nur noch einen Wunsch: Schluss jetzt. Damals gab es rote Coca-Cola-Taschen, so groß wie kleine Reisetaschen. Die habe ich gepackt, etwas Unterwäsche, etwas zum Wechseln und eine Strickjacke. Im Portemonnaie zählte ich noch dreißig Mark. Mein Vater war im Gericht, meine Mutter bügelte im Balkonzimmer und rief mir manchmal ein paar Sätze zu. Irgendwann machte ich mich einfach durch den Hintereingang aus dem Staub und haute durch die Gärten ab.
    Wohin, war mir völlig unklar. Ich lief zum »Old Vienna«, einem Lokal am oberen Ku’damm, wo ich einen Fotografen zu treffen hoffte, einen guten Freund, der fast jeden Nachmittag dort saß, Zeitungen las und Pfeife rauchte. Ausgerechnet an jenem Tag war er nicht da. Stattdessen stieß ich auf einen ehemaligen Klassenkameraden, einen Kellner im benachbarten Restaurant »Kopenhagen«. Ich sei eben von Zuhause abgehauen, erklärte ich, hätte aber noch keine Bleibe. Er starrte mich ungläubig an: »Du spinnst!«
    Es stellte sich heraus, dass der Klassenkamerad in der Uhlandstraße ein Zimmer hatte, in dem er schlief, wenn er Spätdienst hatte. Das konnte er mir für die Nacht zur Verfügung stellen. Die Wohnung gehörte einem Rechtsanwalt, der die Zimmer einzeln untervermietete. Statt der 35 Mark, die der Kellner bezahlte, verlangte der Vermieter von mir allerdings 120 Mark Miete für den Monat. Das lag außerhalb meiner Möglichkeiten.
    Wie es der Zufall wollte, stieß ich am nächsten Abend im »Riverboat« am Fehrbelliner Platz auf ein paar Mädchen , die alle nicht mehr zu Hause wohnten. Wie sie das bewerkstelligt hatten? Sie lebten
und arbeiteten bei den Amis. Jede Familie von den amerikanischen Besatzungssoldaten hatte nämlich das Recht, sich eine Babysitterin zu nehmen, die mietfrei wohnen konnte, wenn sie die Kinder fünfzehn Stunden in der Woche betreute. Die einzige Voraussetzung war, dass man Englisch konnte.
    Ich bekam eine Stelle bei einer verrückten Familie aus Alabama mit sechs Kindern. Mein Zimmer lag im Dachgeschoss eines langgestreckten Hauses in der Taylorstraße. Zu dem Wohntrakt gab es drei Eingänge, die im Keller und oberen Stockwerk miteinander verbunden waren. Toby betrat also das Gebäude mit hochgeschlagenem Kragen in Eingang 3, lief unten den Keller entlang und kam in der Mitte zu mir hoch unter das Dach. Die anderen Mädchen sollten nicht wissen, dass er da war. Und da Toby Roth-Händle rauchte, musste auch ich anfangen, Roth-Händle zu rauchen. Irgendwann hat eine Studentin dann doch etwas bemerkt und mich bei meiner Misses verpfiffen. Die kam hoch, Toby lag im Bett,
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