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Dornröschenschlaf

Dornröschenschlaf

Titel: Dornröschenschlaf
Autoren: Alison Gaylin
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Prolog
(20. September 2009)
    Ihr Leben hatte ein »Davor« und ein »Danach«. Carol Wentz hatte es bisher nie so empfunden, aber mit dem Verstreichen der Zeit sieht man die Dinge anders, und zehn Jahre später konnte sie ihn erkennen: den Moment, bevor sie die kleine Neff hatte verschwinden lassen. Und den Moment danach.
    Eine klare, saubere Zäsur.
    Einundvierzig Jahre lang hatte Carols Leben sich von einem Tag zum anderen bewegt, ohne dass auch nur ein einziger Moment wirklich bemerkenswert gewesen wäre – sie war kinderlos und führte eine Ehe, in die sie einfach irgendwie hineingeglitten war, durch eine schlichte Trauung auf dem Standesamt, die an einem Mittwoch in der Mittagspause stattgefunden hatte, nachdem sie schon beinahe ein Jahrzehnt Nelsons Lebensgefährtin gewesen war. Weil sich so viel Geld für die Krankenkasse sparen ließ. Wahrscheinlich könnte sie die Zeit auch in die Jahre vor und seit Beginn ihres Zusammenlebens unterteilen – in die Jahre ihres Single-Daseins und die Zeit als Partnerin –, aber wenn sie ehrlich war, gab es da kaum einen Unterschied. Jeder Tag zog sich unendlich hin und hörte damit auf, dass Carol immer noch dieselbe alte Carol war – die Carol, die sie bereits in der Grundschule gewesen war, klapperdürr und x-beinig und fast immer allein.
    Wobei seit dem Labor Day im September 1998 alles anders und vor allem Carol eine andere war. Nun, das war sie vielleicht immer schon gewesen, nur dass es ihr vorher nie bewusst gewesen war. Was hätte sie wohl in ihrem Buchclub über sich gesagt? Ein unsympathischer Charakter. Schwach und kleinkariert. Ich nehme ihr ihre Beweggründe nicht ab. Schließlich war das Mädchen erst sechs Jahre alt.
    Carol dachte äußerst ungern an den Tag zurück. Doch es gab auch viel anderes, was sie äußerst ungern tat: zum Beispiel den Truthahn für das Thanksgiving-Essen ihrer Kirche zubereiten, die Katzen ihrer Nachbarn füttern, wenn diese im Urlaub waren, ihnen Starthilfe geben, wenn die Batterie des Wagens streikte, kurzfristig ihre Kinder von der Schule abholen, wenn sie selbst verhindert waren. Trotzdem tat sie all diese Dinge, ohne sich jemals darüber zu beschweren.
    Früher war sie nicht so hilfsbereit gewesen. Bevor sie das Neff-Mädchen hatte verschwinden lassen, hatte sich ihre Rolle in der Nachbarschaft darauf beschränkt, dass sie allen anderen möglichst aus dem Weg gegangen war. Jetzt aber war sie die Hilfsbereitschaft in Person, jemand, zu dem man mit sämtlichen Problemen ging, und alle in der Gegend – sogar Nelson – taten so, als wäre das nicht neu. Als wäre das schon immer eine ihrer ureigensten Eigenschaften gewesen, obwohl es in Wahrheit nur ein Teil ihrer Buße war. Ein Symptom der Zeit »danach«.
    Der wichtige Teil des Tages begann damit, dass die kleine Neff auf dem Grillfest bei Theresa und Mark Koppelson zu ihr gekommen war. Carol war allein gewesen. Als sie Nelson zum letzten Mal gesehen hatte, hatte er mit der Mutter des Mädchens, Lydia, gesprochen, die beim Grillen half. »Du siehst unglaublich aus«, hatte er zu ihr gesagt. Unglaublich, so, als hätte er Lydia Neff seit Jahren nicht gesehen und als trüge sie nicht eine mit Barbecue-Sauce verschmierte Schürze über abgewetzten Jeans.
    Die beiden hatten Carol nicht bemerkt, weshalb sie, vorgeblich auf der Suche nach dem Bad, klammheimlich verschwunden war. Und wieder einmal hatte sie sich so gefühlt, als hielte jemand eine riesengroße Lupe über sie und verfolge jede ihrer Gesten ganz genau.
    Sie war gerade durch die Küchentür getreten, als sie eine Berührung an ihrem Bein gespürt hatte und stehen geblieben war. Lydias Tochter Iris hatte aus den schwarz glänzenden, harten, durchdringenden Augen ihrer Mutter zu ihr aufgesehen. Carol hatte die Zähne aufeinandergebissen und ein Kribbeln auf der Kopfhaut verspürt. Wieder hatte sie an dieses Wort gedacht. Unglaublich.
    Â»Was willst du, Iris?«, hatte sie gefragt.
    Â»Saft.« Kein Bitte, aber sie hatte nicht unhöflich geklungen, sondern eher kleinlaut, wenn sich Carol recht entsann. Weshalb Carol vor die rote Kühlbox, die Theresa Koppelson neben den Kühlschrank gestellt hatte, getreten war. Auf dem daraufliegenden Schild hatte GETRÄNKE FÜR KINDER gestanden, und Carol hatte den Deckel aufgeklappt und auf die bunten kleinen Trinkpäckchen gestarrt, die wie
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