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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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Speiselokal am Alex vorführte, sind den Gästen vor Schreck die Messer und Gabeln aus den Händen gefallen.
    Tobys ganzes Leben war Rhythmus. Er konnte mit seinen kleinen Kindern keine Treppen rauf oder runter gehen, ohne dass er ihnen nicht unterschiedliche Rhythmen vorführte. Der jüngere Sohn Daniel ist später tatsächlich Schlagzeuger geworden. Alles war bei ihm Musik und Bewegung, und alles musste swingen. Wir konnten auch ungeheuer gut Jazz tanzen.
    Mir gefiel das Milieu. Viele der jungen Leute, die in die »Eierschale« kamen, waren Kunststudenten, ziemlich exzentrisch. Die Typen trugen Bärte, abenteuerliche Hüte und die Hemden locker über die Hosen. Sie hielten sich alle für Existentialisten, man hatte immer den Eindruck, sie wären gerade vom Montmartre gekommen. Der eigentliche »Existentialist« jedoch war Toby. Er musste mit der geringen Gage eine Familie unterhalten, viele Studenten hingegen erhielten einen schönen monatlichen Scheck von Papa.
    Vor der Tür standen die tollsten Autos. Man nannte sie Dixis. Es waren oft flache, kleine Sportwagen mit offenem Verdeck, toll geschmückt und bemalt. Ich selbst habe drei Autos bemalt, nachdem sich rumgesprochen hatte, dass ich gut malen konnte. Einige Autos waren auch mit Blumenkästen behängt. Alle Mädchen wollten gern mit so einer Karre die Havelchaussee langbrausen.
    Auch die Mädchen sahen total frankophil und existentialistisch aus: enge Hosen – ich war mit Jeans in die Badewanne gestiegen und hatte sie am Körper trocknen lassen, so dass sie hauteng saßen –, möglichst schwarze, flache Schuhe, enge oder umgekehrt völlig ausgeleierte große Pullover, die möglichst noch über die Hände reichten. Und unter dem Arm Bonjour tristesse , den Bestsellerroman von Françoise Sagan, der einen Skandal ausgelöst hatte, weil eine Siebzehnjährige schilderte, wie sie frei und ohne Schuldgefühle ihre Sexualität auslebte.

    Auf allen Ebenen suchten wir nach Identität, nach Selbstständigkeit, einfach nach uns selbst. Wir wollten Freiheit, aber auch Romantik. Chiantiflaschen mit möglichst viel abgetropftem Kerzenwachs waren so ein Zeichen dieser Mischung, ein Souvenir, das bessergestellte Eltern von ihrem ersten Urlaub in Italien mitbrachten.
    Für mich und meine beiden Brüder hatte die allgemeine Aufbruchsstimmung noch eine besondere Bedeutung. Wir waren 1953 mit sechs Personen und nur einem Koffer bei Nacht und hohem Schnee aus der DDR geflüchtet und hatten einen neuen Haushalt gegründet von der Nagelschere bis zum Klavier. Wir Kinder hatten mit dem neuen Schulsystem klarkommen und drei Jahre Englisch nachholen müssen – unser Russisch konnten wir vergessen. Nach nur drei Jahren hatten wir es geschafft. Und wir Heranwachsenden, die so die Freiheit geschnuppert hatten, wollten nun richtig loslegen. Ich wollte mich nicht von den Verboten meiner Eltern abhalten lassen. Was immer nur den sechziger Jahren zugeschrieben wird – diese Aufmüpfigkeit, dieses Den-Staub-Abschütteln –, das begann schon in den fünfziger Jahren.
    Beide Elternteile haben sich allerdings sehr schwer damit getan, dass ich erwachsen werde. Für sie war ich immer Kind. Weil ich so klein und zierlich war, musste ich noch in Kinderkleidern herumlaufen, als andere schon kleine Absätze und schwingende Kleider trugen. Die erste Schminke bekam ich von meiner Freundin. Ihr Vater war Apotheker, in seinem Laden haben wir uns heimlich mit Cremes und Lippenstiften eingedeckt. Meine Mutter schimpfte: »Wenn wir kein Geld dafür haben, brauchst du das auch nicht von deiner Freundin zu nehmen!« Als ich das erste Mal ankam mit einem Rock bis zur Wade und kleinen Pumps, ist mein Vater fast umgefallen.
    Mein Vater wollte die Übersicht und Kontrolle behalten. Wir drei Kinder sollten unsere Freunde möglichst immer mit nach Hause bringen. Sie wurden den Eltern vorgestellt und geschickt ausgefragt: »Was ist denn der Papa, oder was macht die Mutter?« Hätte ich mich an diese Regeln gehalten, hätte es keine Probleme gegeben.
Doch weil ich ausbrach, engagierte mein Vater meinen Cousin, meine beiden Brüder und den Freund eines Bruders und zahlte ihnen Hunderte von Mark, damit sie abends nach mir suchten. Die Jungens wussten natürlich, wo ich war, haben das Geld aber genommen  – angeblich, um mit dem Taxi die Jazzbuden in der ganzen Umgebung abzuklappern, die »Badewanne«, die »Hajo-Bar« und »Storyville« in der Martin-Luther-Straße. Manchmal bin ich mit Toby tatsächlich noch
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