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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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ZWISCHEN ENGE UND AUFBEGEHREN
    Zum Beispiel Christina Thürmer-Rohr
    D ie meisten Reden über die fünfziger Jahre gehen mir ziemlich gegen den Strich, weil immer behauptet wird, sie seien durchgehend muffig, bieder und verklemmt und zentral vom Wirtschaftswunder bestimmt gewesen. Meine Erfahrungen sind ziemlich anders. Mein Leben war armselig, beengt, weitgehend abgeschnitten von der Welt, aber nach innen ausschweifend und ungebunden. Einerseits war ich hochgradig belastet, andererseits angefüllt mit hochgetriebenen Wünschen und Sehnsüchten nach einem anderen Leben. Ich war begeisterungsfähig und zukunftssüchtig, hatte kaum Vorbilder, vieles war selbst gefunden und selbst gemacht. Wenig Außenbeziehungen und viel Innenleben: Das war für mich das Wesentliche dieser Zeit.
    Ich bin geboren im damaligen Pommern, dem heutigen Polen. Neuwedell, heute Drawno, war eine unscheinbare Kleinstadt, mein Vater hatte dort seine erste Pfarrstelle. Schon vor Kriegsbeginn wollte er Soldat sein – sich »nicht drücken vor der Verantwortung«, wie er schrieb – und meldete sich 1938 freiwillig zum Militär. Da war ich noch nicht zwei Jahre alt. Ich kannte ihn nur als Urlaubsgast in Uniform und hatte eine große Distanz zu ihm. Gleichzeitig waren meine viereinhalb Jahre ältere Schwester und ich ununterbrochen mit ihm beschäftigt. Unser Lieblingsspiel hieß: »Vati kommt auf Urlaub.« Das Spiel begann damit, dass das Telefon in der Puppenstube läutete: Morgen kommt er nach Hause! Daraufhin entwickelten wir eine fieberhafte Aktivität, räumten die Puppenstube auf, putzten die Möbel, pflückten Blumen – alles für den Moment seiner Ankunft. Wenn er dann kam, war das Spiel zu Ende. Da versagte meine Fantasie.

    Mein Vater war überzeugter Nationalsozialist und gleichzeitig Mitglied der Bekennenden Kirche. Wie es möglich war, eine oppositionelle Haltung evangelischer Christen mit der nationalsozialistischen Ideologie zu vereinbaren, ist mir ein Rätsel. Unverständlich bleibt mir auch sein Verhalten nach der so genannten Reichskristallnacht 1938. In der übervollen Kirche von Neuwedell soll er sich in einer Predigt gegen die Gewalt an Juden und jüdischen Geschäften ausgesprochen haben. Jedenfalls wurde er anschließend von der Gestapo abgeholt, anderthalb Tage später allerdings wieder frei gelassen. Ich nehme an, dass er wie viele andere die Gewalt der SA tatsächlich ablehnte, aber die nationalsozialistische Politik weiterhin unterstützte.
    Sein letzter Anruf im August 1941 kam aus der Umgebung von Leningrad; meine Mutter war nicht zu Hause. Das Hausmädchen gab mir den Hörer. Ich war aber so gehemmt, dass ich kaum ein Wort über die Lippen brachte. Was er sagte, weiß ich nicht mehr. Zwei Tage später war mein Vater tot. Da war er 37 Jahre alt. Ich war die letzte Person aus der Familie, mit der er gesprochen hat. Für meine Mutter war sein Tod wie das Ende ihres Lebens. Er war ihre einzige große Lieb ewesen, ihr ganzer Lebensinhalt und Lebenszweck. Sie hat nie eine andere Beziehung gesucht, und bis zu ihrem Tod ist sie ihm treu geblieben.
    Nach dem Tod meines Vaters kam eine Todesnachricht nach der anderen. 1941 fiel der Schwager meiner Mutter, 1942 mein Patenonkel, 1944 der Bruder meiner Mutter, 1945, unmittelbar nach der Kapitulation, starb völlig unerwartet auch ihr Vater. In bleibender Erinnerung sind mir die vielen schwarz gekleideten Frauen und das tieftraurige, aber immer beherrschte Gesicht meiner Mutter, die Fotos in der Wohnung vom Grab meines Vaters in Russland, sein Ehering neben ihrem an ihrer rechten Hand. Meine Mutter war zwar eine tapfere Frau, sie klagte kaum, aber ihre Verzweiflung hing wie eine dunkle Wolke über uns.
    Meine Erinnerungen an die letzten Kriegsjahre sind düster. Eines Tages wurden die Kirchenglocken abgeholt. Wir lebten in
einem schönen, großen Pfarrhaus im Zentrum des Ortes gleich neben der Kirche. Ein Foto zeigt mich auf einem Lastwagen neben den abgenommenen Glocken. Ich wusste, sie würden nicht mehr läuten, es waren nun Glocken zum Kriegsdienst, für Kugeln an der Front. Erschreckt hat mich auch die Einquartierung von vierzig Soldaten auf dem Marsch Richtung Osten in unserem Haus. Ich fürchtete diese vielen fremden Männer, die sich, da wir kein fließendes Wasser hatten, mit lautem Getöse und nacktem Oberkörper an der Pumpe im Garten wuschen.
    Einmal hörte ich meine Mutter zu einem Wehrmachtsoffizier sagen, ich sei ein schwieriges Kind. Das habe ich als Verrat
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