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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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Halbstarken wurden zum Schrecken einer Elterngeneration, auch wenn sie immer nur einen kleinen Teil der Jugend bildeten. Aber sie signalisierten die zunehmende Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Zwängen und den Wunsch nach eigenen kulturellen Ausdrucksformen. Gegen Operetten, Wunschkonzerte und Volkslieder setzten die Jungen Boogie Woogie, Blues und Rock ’n’ Roll. Bill Haleys »Rock Around the Clock« wurde zur Hymne einer ganzen Generation, allein in Westdeutschland wurde der Titel über eine Million mal verkauft, der gleichnamige Film (1956) zog überall ein begeistertes Publikum an. »Halbstarke« trugen Lederjacken und Nietenhosen und stylten sich die Frisur mit Pomade. Sie lärmten auf Straßen und Plätzen mit ihren Motorrädern und entluden ihren Frust in offener Gewalt. In Dortmund und anderen Städten lieferten sich Jugendliche Auseinandersetzungen mit der Polizei. In Berlin endete das Konzert von Bill Haley im Sportpalast mit einer blutigen Schlacht, ein Konzertflügel wurde kurz und klein gehackt.
    Superstar der Bewegung und König des Rock ’n’ Roll wurde allerdings der einstige Lastwagenfahrer Elvis Presley. »Presley verwandelt jedes Auditorium in einen Hochdruck-Dampfkessel, dessen Sicherheitsventil zerbrochen ist«, analysierte der Journalist Eric Random in Life , »aber nicht, weil er der nette Junge von nebenan ist, sondern aus einem andern Grunde. Seit Marlon Brando ein Gentleman geworden ist und James Dean sich zu Tode gefahren hat, ist er – der beiden etwas ähnelt – das hervorstechende Symbol der Rebellion.« Wenn sie seine weiche Stimme hörten und den erotischen Hüft- und Beinbewegungen folgten, gerieten die meist weiblichen Verehrer in ekstatische Erregung. Elternverbände, Religionsgemeinschaften und Medien gaben Elvis the Pelvis (Elvis das Becken) die Schuld für Sittenverfall, Ungläubigkeit und Jugendkriminalität. Das Ziel von Jugendverderbern wie Elvis Presley, Duke Ellington und Bill Haley, so auch der Rheinische Merkur , sei die Heranbildung von »pseudomusikalischen Rowdie-Sekten, um schließlich ungestört über ein Helotenvolk reizvergifteter und süchtiger Idioten gebieten zu können«.

    Bild 24
    Teilweise gewaltsam durchbrachen die »Halbstarken« den Comment der jungen, konservativen Republik. Sie trugen Lederkleidung und Jeans, schlossen sich in Motorradclubs zusammen und orientierten sich am Rebellentum ihrer Idole Marlon Brando und James Dean. Sie hörten andere Musik als die Eltern, richteten sich nach anderen Normen, verfolgten andere Ziele. In einer Gesellschaft, die Anpassung verlangte, musste ihr aufsässiger Lebensstil auf massiven Widerspruch stoßen.
    Tatsächlich standen »süchtige« Fans am Kai, als Elvis Presley am 1. Oktober 1958 mit dem Schiff USS General Randall in Bremerhaven eintraf. In der 3. Panzerdivision im hessischen Friedberg leistete der Star-GI bis März 1960 seinen Militärdienst ab. Er gab keine Konzerte, war in der Boulevardpresse jedoch immer präsent. Und trotz Militärdienst erschienen neue Singles.
    Was da an angeblicher minderwertiger Massenkultur aus Amerika nach Europa schwappte, stieß nicht nur in konservativen Kreisen auf Ablehnung. Der junge Musikjournalist und Jazzspezialist Joachim-Ernst Behrendt erklärte Jazz zwar zur originellsten und vitalsten Musikerrungenschaft des 20. Jahrhunderts und attestierte ihm einen antitotalitären Charakter. Bezeichnenderweise sei diese Musik im NS-Regime und in der DDR unterdrückt worden. Für den linken Kulturphilosophen Theodor Adorno hingegen gehörte der Jazz zu einer armseligen, auf den Konsum eingestimmten Fabrikation. 154 Diese Musik afro-amerikanischen Ursprungs spiegelte für ihn keine Authentizität mehr, sondern nur noch Vermarktung; in ihren Anhängern erkannte er kaum noch »ehrlich protestierende, nach Freiheit begierige Menschen«, sondern autoritär gesteuerte Menschen, die seelisch auf die Vergangenheit ihrer Sklavenexistenz fixiert werden sollten. 155
    Amerikanischer Lebensstil wurde für eine ungewöhnliche Koalition aus Konservativen und Linken zum Schreckbild der Zukunft. Das konservative Bürgertum sah die angeblich überlegene deutsche und europäische Hochkultur in Gefahr; die Linke fürchtete die primitive Vermassung; in der kommunistischen DDR stand der Kampf gegen die »amerikanische Unkultur« im Zentrum der Propaganda. 156 Indem sie Kaugummi kauten, Coca Cola tranken, Jeans trugen, nach »Negermusik« tanzten, von Fans redeten, Comics lasen und
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