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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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Beschäftigung mit dem Thema Dialog und zum Studium der Werke von Hannah Arendt.

    Hannah Arendts Art des Denkens, ihre Analyse des Totalitarismus, ihre Beschreibung des banal Bösen, ihr Bestehen auf der Pluralität als Grundlage des Politischen, ihr »Denken ohne Geländer« – das alles waren und sind für mich Inspirationsquellen, Neuanfänge, die mit Brüchen verbunden sind, mit der Verabschiedung festgefahrener Positionen und falscher Beheimatungen. Arendts Denken ist das Glück, die Engen im Kopf erweitern und den Horizont öffnen zu können – und das Glück, die Gedanken mit anderen zu teilen.
    Meine Mutter hat mich so lange vorbehaltlos unterstützt, wie mein Weg ihrem traditionellen Lebenskonzept noch nicht direkt widersprach. Das Psychologiestudium hat sie akzeptiert, ebenfalls meinen Freund. Erst als ich Anfang der siebziger Jahre die Konventionen deutlich überschritt, aus einer kurzen Ehe ausbrach, zur alleinerziehenden Mutter wurde und mein Erfolg an der Universität sich abzeichnete, begann ein großes Schweigen. Das höchste Ziel meiner Mutter war gewesen, dass ihre Töchter einen angesehenen Mann heiraten, Kinder kriegen und die Familie an die erste Stelle setzen  – Berufstätigkeit erschien ihr wohl doch nur als Mittel zum Zweck. Dass ich Professorin wurde und mich zunehmend öffentlich engagierte, hat sie vor ihren Bekannten immer verschwiegen, ihr war das eher peinlich. Bis zuletzt hat sie hartnäckig übergangen, worum es mir in meiner Arbeit ging, obwohl ich ihr darüber immer berichtet und jede Woche zwei Mal geschrieben habe. Worüber ich nachdachte, welche Projekte ich startete, welche Bücher oder Artikel ich publizierte, das hat sie alles ignoriert. Ihre einzigen Fragen betrafen meinen Sohn, ihren Enkel. Ich aber, ihre Tochter, war ihr irgendwie abhandengekommen. Meine Lebensentscheidungen lehnte sie ab, sie muss sie abwegig gefunden haben, vielleicht hat sie sie auch auf ein Erziehungsversagen ihrer selbst zurückgeführt.
    Es ist ein wunder Punkt geblieben. Ich habe zwar oft versucht, aber es nicht geschafft, mich mit ihr zu verständigen. Die Beziehung zu ihr fand dann aber noch ein schönes, versöhnliches Ende. Kurz vor ihrem Tod 2001 war ich in Polen und habe zum ersten Mal meinen Geburtsort besucht. Ich hatte ein eigenartiges Vorgefühl, wollte
die Reise auf keinen Fall verschieben. Denn ich wollte Fotos machen, um sie meiner Mutter zu zeigen und ihr etwas aus Neuwedell zu erzählen, wo sie ja die schönste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Mit dem polnischen Priester konnte ich mich sprachlich zwar nicht verständigen. Aber er verstand, wer ich war, als ich ihm ein Foto zeigte, auf dem ich als kleines Mädchen vor dem Pfarrhaus zu sehen war. Er war sehr nett und führte mich durch das Haus und die Kirche. Am nächsten Morgen beim Gottesdienst war die Kirche überfüllt, die Menschen standen noch in Trauben vor der Tür.
    Ich habe das alles fotografiert, das Pfarrhaus, den Garten, die Bäume, den See, die Kirche, den verkürzten Kirchturm, die neuen Glocken. Und kam zurück und meine Mutter lebte noch einmal auf, als sie die Bilder sah, und hat immer wiederholt: Ach, das ist ja so schön, dass es da noch Leben gibt. Ist ja egal, wenn die jetzt katholisch sind, ist ja egal. Hauptsache, da sind noch Menschen, und ihnen geht es gut.
    Ein paar Tage später ist sie gestorben.

FRAU, EHE UND FAMILIE
    D as schaffen wir auch noch.« Dieser Satz der Mutter hat sich der zehnjährigen Bärbel tief eingeprägt, auch wenn die Umstände eher banal waren. Eine Steckdose führte keinen Strom mehr. Da drehte die Mutter eine Sicherung heraus, entfernte die kleinen Schrauben im Innern der Dose, zog den Kabelträger aus dem Putz, befreite einen Draht, der sich gelöst hatte, ein weiteres Stück von seiner Isolierung und schob ihn zurück in den Kabelträger. Seit dieser Reparatur ist Bärbel der festen Überzeugung, dass Frauen fast alles können, wenn sie es mit der nötigen Umsicht angehen.
    Bärbel bewunderte ihre starke und entschlossene Mutter. Vor den Bombenangriffen in Berlin hatte sie die beiden Töchter in Ostpreußen in Sicherheit gebracht; vor den anrückenden Sowjets war sie mit ihnen wieder Richtung Westen geflohen. Sie hatte einige Monate Zwangsarbeit durchgehalten, nachdem ihr Treck in Pommern von der Sowjetarmee überrannt worden war (von ihrer Vergewaltigung erfuhr Bärbel erst viel später), und hatte, obwohl durch Fleckfieber völlig entkräftet, die Kinder im Dezember 1945
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