Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jack Holborn

Jack Holborn

Titel: Jack Holborn
Autoren: Leon Garfield
Vom Netzwerk:
I
    Meine Geschichte muß beginnen, als ich in Bristol an Bord der Charming Molly ging. Davor gibt es wenig zu erzählen. Mein Name ist Jack, Nachname »Holborn« nach dem Kirchspiel, in dem ich gefunden wurde: denn ich hatte weder Vater noch Mutter, denen etwas daran lag, mir einen Namen zu hinterlassen.
    Als ich alt genug war, um ohne die Unterstützung meiner Hände zu stehen, fand man für diese Beschäftigung bei einem Flickschuster mit Fäusten aus Stein, der mir dauernd das gnädige Schicksal vorhielt, bei ihm zu sein – und sein eigenes verfluchte, mich bei sich zu haben. Als ich alt genug war, um rennen zu können, rannte ich davon. Wenn ich jedoch jetzt an ihn zurückdenke, muß er wohl ein tugendhafter Mann gewesen sein, der seine Pflicht der Barmherzigkeit so versah, wie er es verstand. Es war mein Pech, daß sein Verständnis nicht größer war.
    So kam ich also nach Bristol, das mir der beste Ort schien, um dieses hartherzige, geringschätzige Land zu verlassen, wo einem nur das Geld im Beutel Ehre, Gerechtigkeit und Mitleid einbringt; und einem ein gutes Herz in der Brust zu nichts anderem dient, als daß es zerbricht.
    Es muß mein Geburtstag gewesen sein, denn Gott machte mir das Geschenk einer pechschwarzen Nacht, so daß ich so leicht an Bord der Charming Molly gelangte, als hätte ich die Überfahrt bezahlt. Ich verfiel gerade auf sie, weil sie ziemlich stattlich war, gut betakelt und handlich vertäut. Diese letzte Erwägung gab den Ausschlag, denn Reisende in meiner Lage haben nicht viel Zeit, sehr wählerisch zu sein. Aber ihre Galionsfigur sprach mich an wie bestimmt auch ihr Name, und in meiner Unerfahrenheit dachte ich, daß einem so hübsch benannten Schiff nichts Böses zustoßen konnte. Ich kannte zwar ihr Ziel nicht, doch ich hoffte, daß es wilde Erdteile seien, wo die Menschen barfuß gingen – mein Schuster hatte mir ein Grauen vor Schuhen hinterlassen.
    Ich verstaute mich behaglich im Laderaum, der voller Fässer, Säcke und dem Aroma des Bilgenwassers war, das keineswegs zum hohen Himmel stank (wie man so sagt), sondern blieb, wo es war: denn solch ein Gestank hat bei den Engeln nichts zu suchen. Ich nahm mir einen vollen Sack als Kissen und einen leeren als Decke und bettete mich neben den Besanmast, wo er sich mit dem Kiel traf. Eigentlich wollte ich wach bleiben und auf die Rückkehr der Mannschaft warten, um zu hören, wann wir losmachten, aber die Erschöpfung und das sanfte Schaukeln des Schiffes senkten mich in einen tiefen Schlaf, von dem ich erst erwachte, als wir auf See waren.
    Ich konnte die Takelage knarren und ächzen hören wie Leder auf dem Leisten; hin und wieder vernahm man das scharfe Schlagen eines Segels, das sich leert und dann einen neuen Bauchvoll Wind übernimmt. Das wenige Licht, das durch die Ritzen des Lukendeckels in die Schwärze drang, konnte mir nur erzählen, daß es Tag war, trotzdem sah ich hauptsächlich mit meinen Händen – was mich sehr schmerzhaft in die Irre führte … Wir rollten ziemlich stark, und obwohl ich mich mit Armen und Beinen festhielt, begann mein Magen dem Gang der Wellen zu folgen. Das nennt man Seekrankheit, und es ist das Schlimmste in der ganzen Welt. Ich lag im stinkenden Dunkel des Laderaumes und betete um den Tod. Oben hörte ich die Seeleute fluchen und schreien und singen, und ich verwünschte sie für ihre gute Laune. Am lautesten von allen hörte ich die Stimme des Kapitäns, der mit windiger Zunge die Charming Molly ihres Wegs zu pfeifen suchte. Wenn er über das Deck kam und ging, bemühte ich mich, der Stimme Gesicht und Gestalt zu geben, denn ich stellte mir vor, daß ich sehr bald vor ihm stehen und mich für meine gesetzwidrige Gegenwart verantworten müßte. Nach Lautstärke, Ton und Kraft stellte ich mir den Mann sehr groß und breit vor, mit Fäusten wie Stiefel und einem Gesicht wie ein Hammer. Und nach allem, was ich weiß, wird er auch an die drei Meter groß und entsprechend breit gewesen sein: denn ich habe diesen unglückseligen Mann nie zu Gesicht gekriegt, obwohl er zuweilen nur um Armeslänge von mir entfernt stand …
    Die Dünung nahm ständig zu und mit ihr meine Seekrankheit, so daß ich zuletzt nur noch um ein schnelles Ende meiner Leiden ächzen konnte. Ich hörte den Kapitän schreien, man solle festmachen, das Vorsegel und die Topsegel einholen, doch obgleich ich den Himmel nicht sehen konnte, muß es sehr dunkel geworden sein, denn die Tageslichtritzen wurden dämmerig und zeigten ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher