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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben
Autoren: Helga Hirsch
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auch nicht, weil ich immer fürchtete, meine Großmutter zu stören. Und wie schon zuvor in dem westfälischen Dorf hatte ich das Gefühl: Eigentlich sollte ich unsichtbar sein, am besten gar nicht existieren.
    Gegen meine Großmutter entwickelte ich eine geradezu krankhafte Allergie. Sie war ungebremst egoistisch. Von dem Viertelliter Milch, der uns Kindern täglich zugeteilt war, trank sie heimlich drei Viertel selbst und füllte den Rest mit Wasser auf. Sie hat uns ständig vermittelt, dass wir dankbar sein müssten, dass sie durch uns eingeschränkt würde, dass wir eigentlich gar kein Recht hätten, bei ihr zu wohnen und dass unser Glück auf dem Tod unseres Großvaters aufgebaut sei. Sie konkurrierte ständig mit meiner Mutter um die Rolle des größten Opfers. Wer leidet mehr: sie, die ihren Mann nach 41 Ehejahren verlor, oder meine Mutter, der dies bereits nach zehn Jahren widerfuhr? Meine Großmutter fand natürlich, dass sie am härtesten getroffen sei, weil sie fast ihr ganzes Leben mit ihrem Mann verbracht hatte. Meine Mutter schwieg dazu und dachte sich ihr Teil.

    Meine Mutter, meine Schwester und ich hielten wie Pech und Schwefel zusammen. Wir waren gleichberechtigt, gleichgestellt und wurden immer die drei Schwestern genannt. Mit meiner Mutter gab es zumindest keinen offenen Streit, und meine Schwester und ich stritten uns nie. Mich quälte allerdings unsere geballte Inkompetenz. Wir »konnten« das Leben nicht, all die erforderlichen, üblichen Dinge des Alltags. Meine Mutter vermochte zwar auf Menschen zuzugehen, mit ihnen zu reden und freundlich zu sein, aber wenn sie eine Lampe anschließen oder den Antrag auf Witwenrente einreichen sollte, war sie völlig hilflos. Gegen Widerstände konnte sie sich nicht durchsetzen. Als zum Beispiel eine Textilfabrik in Bielefeld aufgelöst und Stoff an die Bevölkerung verteilt wurde, war sie vom Drängeln der Leute so abgestoßen und verängstigt, dass sie nur einen übriggebliebenen Stoffrest mit nach Hause brachte: einen harten, grauen Uniformstoff, aus dem ich dann ein Kleid genäht bekam.
    Für mich war es schlimm zu erleben, wie meine Mutter von den »heilen« Familien gemieden wurde, obwohl sie bei allen beliebt war. »Wir Kriegerwitwen«, schrieb sie später in ihren Lebenserinnerungen, »wurden sowieso nicht von den Ehepaaren eingeladen. Man stand völlig außerhalb. Den alleinstehenden Frauen ging man doch mehr oder weniger aus dem Wege.« Bei einem Frauenüberschuss von mehreren Millionen waren Witwen suspekt. Man unterstellte ihnen, dass sie den Ehefrauen die Männer wegnehmen wollten. Da hörte selbst im frommen Bethel die Nächstenliebe auf. Die Heilgebliebenen separierten sich von den Blessierten, die mannlosen Frauen gerieten ins Abseits, die Kluft zwischen den Sanierten und den Dauergeschädigten blieb unüberbrückbar. Freundschaften entwickelte meine Mutter nur zu anderen Kriegerwitwen.
    Ich habe damals ein vehementes Misstrauen gegen heile Welten und heile Familien entwickelt. Schon seit der Kriegszeit war mein Weltbild skeptisch: Die Welt liegt in Trümmern, die Orte sind zerbombt, die Autoritäten demontiert, die Familien unvollständig, die Unbeschädigten selbstgerecht, ein heiles Leben ist trügerisch. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass es etwas wirklich Schönes im
Leben gibt und dass das Leben wirklich lebenswert ist. Als Zehnjährige sagte ich einmal zu meiner Schwester, ich verstünde überhaupt nicht, warum die Todesstrafe etwas Abschreckendes sei. Einfach erschossen zu werden, sei doch nichts Schlimmes, Schmerzen und Folter seien doch viel schlimmer.
    Mein ganzer Trost wurde die Musik. Bethel hatte zu der Zeit einen begnadeten Organisten und Chorleiter, der mehrere Chöre und Orchester gegründet hatte – für Kranke und für Gesunde getrennt. Als Kind war ich in der Choralsingschule, später im Heinrich-Schütz-Kreis, einem so genannten Elitechor, mit dem wir oft zu Konzerten unterwegs waren mit wunderbaren Programmen – den Oratorien und Motetten von Bach, mit Werken von Schütz, vielen Madrigalen, ab und zu auch mit zeitgenössischer Musik, etwa von Johannes Drießler.
    Ich habe auch viel für mich allein gesungen. Zum Beispiel Trostlieder aus dem Dreißigjährigen Krieg. Ich kannte alle Texte der Paul-Gerhardt-Lieder auswendig. »Was hast du unterlassen/zu meinem Trost und Freud/als Leib und Seele saßen/in ihrem größten Leid!/ Als mir das Reich genommen/da Fried und Freude lacht/da bist du, mein Heil, kommen/und
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