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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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    D as Haus meiner Kindheit war groß und leer. Vorne ging es zur Stadt hin, zum Mühlweg, zu den anderen Häusern, nach hinten öffnete es sich auf die ganze Welt. Ich wuchs an einem großen Fenster auf, darunter war die Usa, unser Fluß, dahinter lag das Feld, und darüber war der Himmel. Lag ich im Bett, sah ich die Äste der großen Linden, die am jenseitigen Usa-Ufer standen. Im Sommer wehten ihre Blätter im Wind, im Herbst färbten sie mein ganzes Zimmer, im Winter starrten die Äste wie Skelette im Dunkeln, im Frühjahr bargen sie die Vögel und waren von Gesang erfüllt. Damals erkannte ich noch keine Vogelstimmen. Damals war ihr Gesang noch ungeschieden und einheitlich. Ich lernte die Stimmen erst, als das Zimmer, das Haus und die Welt, auf die hin es sich öffnete, verloren waren, wie auch das Geräusch der Usa, das mein Lebensgeräusch war. Dieses stetige Plätschern, das meinem Kopf von Anfang an einen bestimmten Rhythmus mitgegeben hat, gegen den ich mich nicht wehren konnte, vielleicht einer der Anfangsgründe meiner Krankheit.
    Als ich ein kleines Kind war, brachten meine Eltern mich zum Arzt, denn ich sprach nicht, sagensie, lange Zeit nicht, kein Wort, und ich bewegte mich absonderlich. Sie glaubten an einen schwerwiegenden Nervenschaden. Die Augenprobe bestand ich nur teilweise. Immer glitten meine Augen vom Gegenstand der Betrachtung. Am Anfang fixierte ich, dann glitt ich ab, sagen sie. Ich lag nachts im Bett und hustete mir alles aus dem Leib, auch das wurde mit den Nerven erklärt. Ich war ein erschöpftes Kind, das sich nachts in einen bellenden Hund verwandelte. Der Arzt habe mich begutachtet und gesagt, das Verhalten, das ich an den Tag lege, sei im allgemeinen Zeichen für eine Art von geistiger Behinderung, ich war aber offensichtlich nicht geistig behindert, sondern zeigte nur dementsprechende Verhaltensweisen. Ich war ein stummes Kind, das auf keinem Stuhl sitzen blieb, und wenn ich im Bett lag, schloß ich die Augen und öffnete sie wieder und wälzte stundenlang und die halbe Nacht langsam meinen Kopf auf dem Kissen hin und her, von links nach rechts und wieder von rechts nach links. Das machte meinen Eltern angst. Ich war verschlossen in meiner Welt, so sei es ihnen vorgekommen.
    Erinnerungen an die erste Zeit im Haus habe ich nicht. Aber ich sehe immer ein Bild vor mir, nämlich wie ich im Kinderwagen im Foyer, unserem Hausflur, sitze. Vielleicht hat mich meine Urgroßmutter gerade von den Enten am Bad Nauheimer Teich nach Hause gebracht, und nun sitze ich dort im Kinderwagen und betrachte mit verschlossenem Mund die Welt und wiege den Kopf hin und her. Auch im Kinderwagen soll ich oft diese Bewegungen mit dem Kopf gemacht haben. Unten eine riesige, leere Fläche von Marmorfliesen, die eine große Kühle ausstrahlen. Dann nach rechts die lange Flucht des Ganges. Hinten im Gang ist es ganz lichtlos. Vorne, aber erst in einigem Abstand zu mir im Kinderwagen, die riesige freischwebende Treppe, mit denselben Marmorplatten belegt wie der Boden. Hinter mir, durch die offenstehende Tür, strömt Licht herein, und vom Obergeschoß kommt ebenfalls Licht herab, als sei dort oben eine Art Himmel, eine andere Sphäre. Das Foyer sieht in diesem Bild aus wie eine riesige Theaterbühne, ein Architekturstück in kühler, geometrischer Ordnung ohne Schauspieler, nur mit mir darin. So sehe ich meinen Wagen wie in einem universalen Raum, in dem sich jeder Augenblick bis an die Grenzen der fernen Wände und in die schwummrige Dunkelheit hinein dehnt. Das einzige Material, aus dem dieses Universum besteht, sind die fernen Tapeten der Wände und die zahllosen Fliesen auf dem weit sich verlierenden Boden. Vielleicht betäubt mich dieses Foyer mit seiner Stille und Riesenhaftigkeit, oder ich schaue es verwundert an und dämmere dabei hinweg.
    Wenn man im Erdgeschoß die breite, offene Kellertreppe hinabblickte, die in der Mitte des Foyerslag, sah man wie in einen Schlund hinein. Es war eine dunkle, unheimliche Öffnung. In der Uhlandstraße hatte der Keller hinter einer Tür gelegen. Auch bei der Urgroßmutter mußte man erst einmal das Treppenhaus hinuntersteigen und dann eine gelblich mit Lack angestrichene Holztür öffnen, um in den Keller zu gelangen. Hier aber mußten sie mich davor bewahren, in diesen Kellerschlund hinabzustürzen. Ob mich dieses unbekannte Dunkle anzog, das da jeden Tag offen vor mir lag, ob es mich abstieß und mir Furcht einflößte? Manchmal muß ich gesehen haben, wie jemand
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