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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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pflichtbewußt, manche begeistert und mit ihren Händen in meinem Gesicht. Dann wurden Karten geschrieben, dann wurde ich ins Taufregister eingetragen, und während all dessen lag ich herum und wurde ernährt und gesäubert und gewickelt. Inzwischen mußte sich meine Mutter um die Firma kümmern, dann kam mein erster Umzug, in die Uhlandstraße in die kleine Dachwohnung.
    Die Anekdoten blieben noch eine Weile lieblich. Geschrien hätte ich natürlich so gut wie gar nicht in den ersten Wochen, und ich hätte mich nie aufgedrängt. So ging ich in der ersten Zeit, stelle ich mir vor, von Hand zu Hand, bis ich für die ersten Jahre in der meiner Urgroßmutter landete, und meinem Vater gratulierten sie in seiner Firma und reichten ihm die Hand und schüttelten seine und tranken mit ihm ein Glas Sekt. Am Anfang wurde ich bestaunt wie jedes Kind, und jedes Kind war wie eine Pflicht, die man endlich auf sich genommen hat, weil alles andere eine Art von Fahnenflucht gewesen wäre und ein schierer, unglaublicher Egoismus. Lieblich auch: Die Urgroßmutter, die zu meiner ersten großen Bezugsperson wurde, habe immer mein Bubchen gesagt, wenn sie von mir gesprochen habe. Ganz vernarrt soll sie in mich gewesen sein, und zwar von Anfang an, wobei anzumerken ist, daß etwas anderes in der Familie auch nicht erzählbar wäre. Mit Sicherheit würde nie jemand erzählen, daß die Urgroßmutter unter Murren und Beschwerden den Säugling an sich genommen habe, denn dann müßte ja gerechtfertigt werden, wieso man ein Kind zu jemandem schiebt, der offenbar lieber nichts damit zu tun hat. Da ich also die ganze Zeit bei der Urgroßmutter war, muß sie mich natürlich über alles geliebt haben, sonst könnte die Familie diese Geschichte gar nicht erzählen. Auch bei uns wurden immer nur die Geschichten erzählt, die man guten Gewissens erzählen kann, wie in jeder Familie. Heute weiß ich, daß es 1967, im Jahr meiner Geburt, nach dem Tod der beiden alten Bolls, Urgroßvater Karl und Großvater Wilhelm, zu einer kompletten Neuordnung der Familie unter der Ägide des eingeheirateten Rechtsanwalts und ehemaligen Steuerbeamten, meines Vaters, kam, bei der ganz neue Rollenverteilungen geschaffen wurden wie etwa für meinen Onkel J. oder auch für meine Urgroßmutter, wie ja auch meine Mutter plötzlich zur Firmenchefin wurde, eine Tatsache, ohne die das große Haus auf dem Gelände unserer Grabsteinfirma nie entstanden wäre. Vielleicht bin ich ganz anders aufgewachsen, als es die lieblichen Anekdoten erzählen.
    Inzwischen wohnten wir also in der Uhlandstraße. Morgens holte mich meine Urgroßmutter dort ab, verpackte mich und schob mich auf die Straße, auf der damals noch kaum Automobile fuhren. Sie schob mich nach rechts, die Uhlandstraße entlang mit ihren villenartigen Häusern, gebaut um die alte Jahrhundertwende, in deren Vorgärten Rosen blühten, und vor jedem Haus standen Bäume und waren im Herbst gefärbt und ließen ihr Laub fallen, vielleicht wirbelten die Blätter um mich herum und freuten mich. Dann, am Ende der Uhlandstraße, bog meine Urgroßmutter nach rechts, dort erreichten wir nach wenigen Metern den Solgraben.
    Der Solgraben gehört zum Bild meiner Kindheit. Mit fünf, sechs Jahren stand ich oft an der Hand meiner Großmutter Gusti am Solgraben, staunte in das rote, klare Wasser hinein und betrachtete die Ablagerungen im Bett des schmalen Grabens, der auf mich wie ein Lebewesen wirkte. Manchmal war er stillgelegt, dann schaufelten ihn Arbeiter aus, dann wieder war er so zugewuchert von Sole-Ablagerungen, daß das Wasser sich nur mit Mühe in ihm bewegen konnte, oder er war klar und das Bett gereinigt, dann schwammen Enten auf ihm, trieben im Herbst vielleicht Blätter auf dem Wasser, und die Häuser und Bäume spiegelten sich in seinem Laufund schufen einen Eindruck von Tiefe, obwohl das Wasser nie höher als fünf Zentimeter in dem Graben stand. Damals liebte ich den Solgraben.
    Aber noch bin ich erst ein halbes oder ein Jahr alt und im Kinderwagen bei meiner Urgroßmutter Else. Was der Solgraben in dieser ersten Zeit für mich war, kann ich nicht sagen, denn ich habe natürlich keinerlei Erinnerung daran. Ich kann nur sagen, daß er da war und, wenn die Urgroßmutter auf einer Bank an seinem Lauf saß und mich auf ihrem Schoß hielt, damit ich alles um mich herum betrachten konnte, schon immer so ausgesehen hatte, und daß er auch damals bereits ganz selbstverständlich zu mir und meinem Leben dazugehörte.
    Meine
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