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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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knien oder nach vorn zur Kommunion schicken, und über all das müßte ich die höhere Idee der Ehe setzen, die allediese einzelnen Lebensdetails auratisch umleuchtet, zumindest für die betreffenden Personen. Daneben die permanente Abwesenheit ihres Gatten nebst seinen diversen Aufbautätigkeiten für die Familie, dem Abschluß von Versicherungen, Bausparverträgen, dem Eröffnen von Konten und Niederschreiben von Steuererklärungen, der politischen Arbeit im Stadtparlament, und auch ihn müßte ich, wenn er am Feierabend oder an den Wochenenden da ist, neben seine Gattin auf das Sofa oder auf die Kirchenbank setzen, und zwischen sie vielleicht die beiden Kinder. Sie werden oft in die Uhlandstraße gefahren sein oder zu meiner Urgroßmutter nach Friedberg in die Usavorstadt. Vielleicht gemeinsame Kartoffelpuffer am Herd, die Eier stammen aus den Ställen auf dem Grundstück der Steinwerkefirma.
    Der erste konkrete Begriff, mit dem meine Zeitrechnung beginnt, ist also der Milchmann. Ich sehe eine Frau, die sich eingerichtet hat, ihren Tagesablauf hat, ein gutes Verhältnis zum Milchmann, zwei, drei Kilometer entfernt von ihren nächsten Verwandten, die aber sicherlich jeden Tag Kontakt zu diesen Verwandten hat, oft mit ihnen telefoniert und die anstehenden Dinge bespricht. Neben der Geschichte mit dem Milchmann und der leichten Geburt, über die sich alle gefreut haben, gab es wenige Wochen zuvor allerdings auch die Beerdigung meines Großvaters und, wiederum einige Wochenvorher, die des Urgroßvaters, wodurch die Firma plötzlich führungslos geworden war. Zum Zeitpunkt meiner Geburt war die Direktorenstelle der Firma Steinwerke Karl Boll vakant, und meine Mutter sollte sie übernehmen.
    Also, der Milchmann. Vielleicht gab es häufig Gespräche beim Milchbringen, zwischen Tür und Angel, und der Milchmann bekam dann einen Schnaps wie der Postbote. Er folgte dem Wunsch meiner Mutter und fand es wahrscheinlich abwechslungsreich, eine Hochschwangere im letzten Moment in die Klinik zu fahren, aber möglicherweise ist dem Milchmann auch während der Fahrt klargeworden, daß die Geburt sich auch gleich, also noch im Milchwagen, ereignen könne, folglich wird er sich beeilt haben. Ansonsten wäre ich vielleicht in einem Milchauto zur Welt gekommen irgendwo zwischen Nieder-Mörlen und Bad Nauheim auf der B3. Ganz plötzlich sei es gegangen, und ich (der Andi) sei dagewesen. Ich, das Milchmannkind, die leichte Geburt, das einfache Wesen, und gleich gelacht soll ich haben, gefreut soll ich mich haben, auf der Welt und nun im Sonnenlicht, aber wahrscheinlich habe ich doch eher um mein Leben geschrien im ersten Moment, wie alle Kinder. Vermutlich wurden dort in der Geburtsklinik mindestens fünf oder zehn geboren an diesem Tag, und jeden lächelten sie an und ließen ihn schreien und legten ihn dann ab undriefen die nächste Kreißende herein. Auch für meine Mutter war ich ja bereits Routine. Am Abend dann der Vater, wie er mit einem Blumenstrauß erscheint im Dienstwagen, und möglicherweise, wenn alles so einfach mit dem dritten Kind war, fuhren sie bereits am selben Abend mit mir nach Nieder-Mörlen, und auch die dann folgenden Handgriffe an mir waren Routine und geübt und betteten mich in die Tücher, in die schon zwei andere Kinder gebettet worden waren. Wieder ein Kind da. Noch eins. Schönes Wetter soll an diesem Tag geherrscht haben in der Wetterau, es war der Tag des heiligen Ägidius, des Schutzhelfers bei Unfruchtbarkeit, Pest und Geisteskrankheit, abends stand der Mond nur noch zu einem Achtel am Himmel, und im Fernsehen sahen sie die Abendnachrichten, in denen die Republik des Kriegsausbruchs auf den Tag genau vor achtundzwanzig Jahren gedachte (an einem Freitag wie mein Geburtstag). Damals war das Zweite Deutsche Fernsehen seit genau einer Woche auf Sendung. Auch in den folgenden Tagen und Wochen soll ich ein einfaches, unkompliziertes Kind mit einem sonnigen Gemüt gewesen sein.
    Die ganze Familie muß in den ersten Tagen an mir vorbeidefiliert sein, das heißt die Bad Nauheimer Großmutter und Urgroßmutter, der Großvater aus Frankfurt und die dortige Großmutter, der Bruder und die beiden Schwestern meines Vaters, derjüngere Bruder meiner Mutter, Onkel J., die bereits größeren und gehfähigen Nachkommen all meiner Frankfurter Onkel und Tanten, alle sind sie an mir vorbeigelaufen und haben in mein Bett hinein- und auf mich gestarrt mit erfreuten Gesichtern, manche vielleicht auch nur verunsichert und
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