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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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alten Vasen und Kristallschalen und so weiter, so rekonstruiere ich bis heute eigentlich auch immer wieder zwanghaft die Jahre, an die ich mich nicht erinnern kann, und ich mache meine mir nicht mehr gegenwärtige Urgroßmutter dadurch wieder lebendig, daß ich die alten Wege von damals gehe und an den Plätzen sitze,auf denen sie damals auch saß, mit mir als Säugling. Und auch wenn der gegenwärtige Bürgermeister mit großer Energie an der Vernichtung dessen arbeitet, was meine Geburtsstadt einstmals war, so ist doch ein Teil meiner damaligen Jahre tatsächlich noch vorhanden und noch nicht ins Nichts zurückgewandelt worden: die Uhlandstraße mit ihren Häusern, der Solgraben, der Park, die Gradierwerke, auch ein Großteil der Cafés, die meine Urgroßmutter mit mir aufsuchte, ist noch da. Wenn ich dort spazierengehe, rede ich mir immer ein, ich liefe eigentlich durch meine früheste Seelenlandschaft.
    1970 baute die Familie dann also das Haus in Friedberg im Mühlweg. Arbeiter sägten die Apfelbäume des ehemaligen Obstgartens ab und gruben die Wurzeln aus dem Grund, legten die Stallungen nieder, man holte die Hühner vom Hof und schlachtete sie, auch der Hund war schon lange verschwunden, der alles zu bewachen hatte (ein Schäferhund namens Zeus, den ich nie kennengelernt habe), dann zogen sie den Zaun, um die Familie vor der Umwelt und der Nachbarschaft zu schützen. Anschließend hoben sie das Erdreich aus, verlegten ihre Leitungen, ihre Abwasserrohre unter die Erde, gossen Beton, wo vorher nur Erde und Bäume und Farn und Laub waren, und nun war da bereits eine riesige Betonwanne mit unterirdischen Kanalanschlüssen für Wasser und Fäkalien, das hatte keinezwei Monate gedauert, und meine Mutter steht mit ihrem leichten, hellen Übergangsmantel im Frühling, im Herbst auf dem Baugelände und überwacht den Bau, ein Kopftuch über dem Haar gegen den Staub und den Wind, während mein Vater in Frankfurt am Main ist und erst am Abend in die Wetterau zurückkehrt in seinem Dienstwagen der Henninger Bräu AG. Für den Dienstwagen ist auch mitgegossen worden, das Betonfundament der Garage. Auch das Automobil soll eine Heimat haben, auch es gehört mit zum Haus und soll darin wohnen und gegen Wind und Regen und Frost geschützt werden wie die Familie, und sogar eine Garagenheizung bekommt das Automobil und bald auch schon ein Geschwister, das Auto meiner Mutter. Dann werden Zug um Zug die Wände hochgezogen, immer weiter wächst das Haus, immer größer wird es. Dann steht es da als Rohbau, schon mit Dach, aber noch ohne Putz, Tapeten und Böden, und wer damals durch die Raumfluchten gegangen wäre, hätte sich sofort verlaufen, so viele Räume und Winkel gab es darin. Dann kommen die Haustür und die Fenster, und bald machen sie sich an die Ausgestaltung des Foyers mit dem Marmor, und sicherlich stehen auch die Arbeiter nach Vollendung des Foyers für einen Moment nachdenklich in der Raumflucht und sind verwundert über die seltsame Größe und Leerheit dessen, was sie eben vollendet haben.
    Einzug. Noch immer holt mich die Urgroßmutter täglich ab und schiebt mich ins nunmehr drei Kilometer entfernte Bad Nauheim. Ich bin jetzt zweieinhalb. Das neue Haus. Mein Vater fährt aus der Garage heraus, mein Vater fährt in die Garage hinein. Auch meine Mutter fährt immer wieder aus der Garage heraus und in sie hinein. Fast genauso oft, wie sie aus der Haustüre tritt, fährt sie mit ihrem Auto aus der Garage, es sei denn, sie läßt das Auto gleich in der Zufahrt stehen. Und wenn ich das Haus verlasse, dann inzwischen wohl auch fast immer im Auto. Meine Mutter nimmt ihren Mantel und ihre Handtasche vom Garderobehaken, nimmt den Schlüssel vom Brett und steht in der Tür, das hat sie mein ganzes Leben lang gemacht, am Anfang ist sie fünfunddreißig Jahre alt und schwarzhaarig, später ist sie fünfundfünfzig oder fünfundsechzig oder fünfundsiebzig, inzwischen weißhaarig, und steht immer noch im Türrahmen mit Handtasche und Schlüssel, inzwischen geht die Garagentür automatisch auf, und das Einfahrtstor auch. Zeit unseres Lebens im Mühlweg war der Gang hinaus eigentlich der Gang in die Garage. Während mein Onkel J. seinen braunen Variant fuhr, fuhr meine Mutter bereits einen Mercedes, weiß. Am Anfang noch mit ausladenden Kotflügeln und Hupbügel und Lederschaltknüppel. In der ersten Zeit des Hauses immerhin konnte meine Mutter noch zumMetzger Blum laufen. Zum Edeka, zwei Ecken weiter, wurde dagegen schon
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