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Die Kurtisane des Teufels

Die Kurtisane des Teufels

Titel: Die Kurtisane des Teufels
Autoren: Sandra Lessmann
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MAI 1719
    Ganz London war in Feiertagsstimmung. Menschen jeden Alters und jeden Standes strömten über Holborn und St. Giles zur Oxford Street, einem tiefen Hohlweg voller Sumpflöcher, der zu den westlichen Grafschaften führte. An der Ecke des von einer Ziegelmauer umsäumten Hyde Parks verteilte sich die fröhliche Menge auf den umliegenden Wiesen, die sich in der Ferne in der hügeligen Landschaft verloren. Obwohl es erst Anfang Mai war, wirbelten die unzähligen Kutschen, Pferde und Fußgänger eine gelbe Staubwolke auf, die wie eine Dunstglocke über dem Hohlweg lag. Noch kamen die Karossen der Adeligen und Reichen zügig voran und konnten ungehindert die mächtigen hölzernen Tribünen erreichen.
    Als der Morgen vorrückte, füllten sich die Kuhweiden nördlich der Straße mehr und mehr mit Menschen. Einige Schaulustige, die gelenkig genug waren, kletterten auf die Parkmauer und richteten sich dort so bequem wie möglich ein.
    Geschmeidig wie eine Katze schlängelte sich der junge Daniel Gascoyne durch die Menge. Wie die Bürger, die Handwerker, die Adeligen, die Bettler und die Gevatterinnen, die Mütter mit ihren Kindern und die Lehrknaben, denen ihre Meister an diesem Tag traditionell freigaben, war auch Daniel schon früh am Morgen die zwei Meilen von London bis Tyburn gelaufen, um das Schauspiel zu sehen, das sich etwa um die Mittagszeit vor den Augen unzähliger Gaffer zutragen würde. Da er nur ein frugales Frühstück, bestehend aus Brot und Käse, zu sich genommen hatte, erstand der junge Mann eine Pastete bei einem fahrenden Händler. Die heruntergebrannten Kerzen an dessen Handwagen verrieten, dass der Pastetenbäcker bereits seit dem Morgengrauen vor Ort sein musste. Daniel biss in das inzwischen kalte, trockene Gebäck und betrachtete die Menschen, die ausgelassen schwatzten, scherzten, sangen und einander Anzüglichkeiten zuriefen. Eine Frau, der ein Bursche in den Hintern gekniffen hatte, verabreichte dem Frechdachs eine schallende Ohrfeige. Eine andere trug ein schreiendes Kind auf ihrer Hüfte. Fasziniert von dem fröhlichen Treiben, bemerkte sie die Tränen nicht, die dem Kleinen unablässig über die roten Bäckchen rollten. Zwei Handwerksburschen stibitzten Orangen vom Karren einer Hausiererin und bewarfen kichernd einen Prediger mit den Schalen der frisch geschälten Früchte. Das Einzige, was nicht so recht zu der ausgelassenen Jahrmarktsstimmung passen mochte, war der riesige dreibeinige Galgen auf dem Tyburn-Hügel.
    Im Gegensatz zu den meisten Anwesenden betrachtete Daniel die Richtstätte mit einem leisen Schaudern. Er hatte schon des Öfteren einer »Tyburn-Messe«, wie man die Hinrichtungen auch nannte, beigewohnt und den armen Teufeln in die Augen geschaut, bevor der Henker sie aufknüpfte. Er hatte die Angst darin gesehen, die Panik vor dem Tod und der Hölle, die auf so manchen wartete, oder auch verzweifelten Trotz und das Bedürfnis, in den letzten Stunden des Lebens eine gute Figur zu machen. Zuweilen hatte Daniel das Gefühl gehabt, in einen Spiegel zu blicken. In diesen Zeiten konnte jeder vom rechten Weg abkommen und auf dem Schafott enden.
    In dem Menschengewühl fiel Daniel eine flüchtige, kaum sichtbare Bewegung ins Auge. Der glänzende Stahl einer Uhrkette blitzte kurz auf, dann war nichts mehr zu sehen außer der leichten Drehung einer Hand, bevor der Taschendieb mit der Menge verschmolz. Ein weiterer Kandidat für den Galgenstrick!
    Mit einem Mal schlug die ungeduldige Erwartung in gespannte Stille um, die kurz darauf einem lauten Jubel wich. Die Menschen drängten sich enger zusammen, in dem Verlangen, einen günstigeren Platz zu ergattern. Einige der Rücksichtsloseren traten und schlugen um sich oder rammten einem Unbedarften, der ihnen im Weg stand, den Ellbogen ins Gesicht. Bald gab es die ersten blutigen Nasen und ausgeschlagenen Zähne. Als ein Kriegsveteran in geflickter Uniform und auf Krücken gehend die Frau mit dem plärrenden Kind anstieß, fiel ihr der Kleine aus den Armen. Rasch griff Daniel zu, zog den Knaben unter den trampelnden Füßen hervor, ehe er Schaden nehmen konnte, und reichte ihn der erschrockenen Mutter zurück.
    Aus aller Munde ertönte nun der Ruf: »Hüte runter!« – nicht aus Respekt vor den Verurteilten, sondern damit die hinten Stehenden besser sehen konnten.
    Zu Pferde führten der Stadtmarschall und der Untersheriff die Prozession an, gefolgt von einem Trupp Berittener und dahinter einer Schar Konstabler, die ihre Amtsstäbe
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