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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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gerät in Streit mit den anderen, sie schlägt zu, sie schreit vor Zorn. Sie verteidigt ihr Revier. Bereits ein ganzer, kompletter Mensch. Ich stelle mir vor, daß für meine Schwester von ihren Anschlägen eine Art Erregung ausging, wie bei einem gefährlichen Spiel, wie bei etwas Unerlaubtem, eine Erregung, die ihren Körper anspannte und ihr eine große Lust verschaffte. Eine Lust, die auf einen Höhepunkt zustrebt, und die Zeit bis zum Höhepunkt, bei dem sich alles entlädt, ist die Zeit der Spannung, die Zeit der Vorfreude. Nur sie weiß, was gleich geschehen wird, das Opfer aber noch nicht. Das Opfer muß erst in Sicherheit gewiegtwerden, es darf vorher nichts ahnen. So steigen wir gemeinsam in den Keller hinab, ich auf meiner großen, schrecklichen Exkursion ins Unbekannte, und sie lächelnd und wissend, was gleich kommen wird. Es endete auf der untersten Stufe. Worauf sich meine Schwester die ganze Zeit gefreut hatte, war: Auf der letzten Stufe den Lichtschalter zu betätigen, um das Licht auszumachen, und mir währenddessen einen Stoß zu versetzen, damit ich die letzte Stufe hinunterfliege und auf den Boden klatsche und dort in der Dunkelheit liege, während sie selbst schon im nächsten Augenblick die Treppe hochgerannt ist, ihre Jacke von der Garderobe nimmt und zu einer ihrer Freundinnen verschwindet. Natürlich muß das am Nachmittag oder beim Abendessen, als die Schwester zurückkam, mit einem regelrechten Prozeß gegen sie geendet haben. Für mich endete es vorläufig so, daß ich geschrien haben soll wie am Spieß, bis meine Mutter oder sonst jemand in den Keller kam und mich rettete.
    Mit drei Jahren wurde ich in den Kindergarten gebracht, und damit setzen meine Erinnerungen an mich, meine Familie und das Haus eigentlich erst ein. Es ist der erste wirklich datierbare Tag meiner Zeitrechnung. Es war ein sehr heller, sonniger Tag, manche Bilder habe ich scharf und genau im Kopf. Auch von der Geschichte meines Kindergartentages wurde in der Familie später oft berichtet, er verlieffür sie einigermaßen spektakulär. Ich weiß, daß ich vorher bereits öfter im Auto meiner Mutter gesessen hatte, wenn meine Schwester zum Kindergarten gebracht oder mittags von dort wieder abgeholt wurde. Dann sah ich in den Garten des Kindergartens hinein und erblickte dort die Kinder, wie sie herumtollten und herumschrien. Ich hatte so etwas noch nicht gesehen. Ich soll schockiert gewesen sein, wie schnell dort alles vonstatten ging, wie sie herumliefen, von da nach da, wie sie sich mischten und wieder trennten, und es war wohl sehr laut und schrill, wie sie durcheinanderbrüllten. Aus irgendwelchen Gründen mußte mir klargewesen sein, daß auch ich irgendwann genau dorthin gebracht werden sollte. Ich erinnere mich deutlich, daß ich bereits einige Tage vor meinem ersten Kindergartenbesuch in kindlicher Unruhe war (wie diese Unruhe sich geäußert hat, kann ich nicht mehr sagen, meine Erinnerung vermengt sich mit den späteren, rückblickenden Vergegenwärtigungen dieses Gefühls). Die Unruhe mußte daher stammen, daß meine Eltern, insbesondere meine Mutter, mir Vorfreude auf den Kindergartenbesuch vermitteln wollten und daher Sätze sagten wie: In drei Tagen ist es soweit, in zwei Tagen ist es soweit, morgen ist es soweit, dann darfst du endlich in den Kindergarten. Vermutlich ahnten sie, wie schief das gehen würde, deshalb versuchten sie mir lieber schon vorbeugend zu suggerieren, wie schöndas werde, ich im Kindergarten. Die Schwester ging übrigens sehr gern in den Kindergarten und wollte auch nach der Schließung am Mittag stets gern mit den anderen Kindern zusammenbleiben. Sie hatte sich im Kindergarten ihren ersten Freundeskreis erworben. Wenn wir sie morgens zum Kindergarten brachten, rannte sie vom Auto gleich los, um bei ihren Freundinnen zu sein. Ich aber hatte schon Tage vor dem Kindergarten Angst. Ich erinnere mich an die Autofahrt und wie ich mit meiner Mutter den Gang über den Kindergartenhof machte, an ihrer Hand, und wie ich in einer Art Glasvorbau an eine Kindergärtnerin übergeben wurde, links ein heller Holztisch und bunte, kleine Stühle. Wir stehen im Vorraum, und hinter dem Vorbau öffnet sich ein größerer Saal, in den ich hineinblicken kann. Dort sind sie, die Kinder. Und dann passiert, was in meinem ganzen Leben noch nie geschehen und für mich ganz unvorstellbar war und mein Leben und alles, was mich betrifft, auf einen Schlag änderte und mehr oder minder genau in den Zustand
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