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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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Urgroßmutter, stelle ich mir vor, schob mich nun über die winzige Holzbrücke, die über den Solgraben geht, jetzt waren wir auf der anderen Seite und kamen in den vorderen Teil des Parks, auch dort vielleicht gerade Herbst. Im Herbst sehen auch die Gradierbauten aus, als seien sie aus Herbst gebaut. Ich, das kleine Kind, werde im Wagen vorbeigeschoben an der riesigen Wand aus Schwarzdorngeäst, über die kleine Wassertropfen perlen und mich mit salziger Luft anwehen, und ich atme es, und es ändert meinen Atem und ändert mich, ohne daß ich es merke, denn alles geschieht noch unbewußt. Zuerst die Hausluft im zweiten Stock, vielleicht hat die Großmutter im Erdgeschoß Krautwickel für das Mittagessen vorbereitet, dann die Herbstluft zwischen den Häusern der Uhlandstraße, dann sind wir nur noch zwischen Bäumen, und nun die mit Salz angereicherte Kurluft, die in Bad Nauheim künstlich erzeugt wird, um dem Kurgast eine Art Meeresatmosphäre zu verschaffen. So gehe ich von einem in den anderen Luftzustand über auf meinem kurzen Weg, den die Urgroßmutter bislang mit mir zurückgelegt hat, und ich bin sicher, daß sie vor dem Gradierwerk anhält und sich auch dort eine Weile auf eine Bank setzt oder mich sogar durch den Gradierbau hindurchschiebt, wobei ich dann ganz umschlossen bin von den Schwarzdorngeästen und der feuchten, kühlen Luft und dem kirchenschiffartigen Holzgebäude um mich herum, mit seinen riesigen Ausmaßen und dem feinen, wispernden Plätschern darin, alles umgeben von den Stimmen der Vögel, und alles dort draußen und zugleich in mir, Tag für Tag, mein ganzes erstes Jahr und zweites Jahr. Ich stelle mir eine Zeit ganz ohne Linearität vor, ein ewiges Einerlei. Meine Großmutter schiebt mich über die von einem Tropfenfilm überzogenen Holzbohlen, links und rechts die Wände voller triefendem, perlendem, säuselndem Wasser, wie wenn es immerfort regnete in einem ewigen, gleichbleibenden Fortgang. Schwarzes Geäst akkurat geschichtet links und rechts neben mir, oben der Blick in den freien Himmel, ein schmaler,aber dennoch großzügiger Spalt dort, wo in einem gotischen Mittelschiff das Gewölbe wäre, und an den Enden, im Westen wie im Osten (so würde es bei einer Kirche heißen), die großen Rundbogenportale, durch die ich auch später mein Leben lang geschritten bin in der Wiederholung des damaligen Augenblicks, von dem ich nichts weiß, außer daß es ihn gegeben hat und ich ihn erlebt habe. Dieses Wissen ist zwar, wie alles hinsichtlich meiner ersten Jahre, rein abstrakt, aber dennoch war die Atmosphäre da und meine Wahrnehmung von alldem vielleicht grundsätzlicher als später mit Hilfe von Gedanken an Kirchenschiffe und dem Wissen um Schwarzdorn, Holzbohlen und die Funktionsweise eines solchen Gradierbaus.
    Der Gradierbau (gerade schiebt mich meine Urgroßmutter zu einer der mit Holz ausgeschlagenen Sitzkabinen, läßt mich, das heißt den Wagen, neben sich stehen und setzt sich auf die Bank, derweil sie eine Kunststoffolie über ihr Haar und ihre Schultern breitet, weil es auch dort tropft, und mich wird sie auch auf irgendeine Weise schützen, und so wird sie still eine Viertelstunde dasitzen, und wir werden nichts als das ewige Tropfen hören, jenes Geräusch, bei dem man irgendwann wegzudämmern beginnt) ist zeit meines Lebens der Ort eines Mysteriums gewesen, wie ein materialisiertes Märchen oder wie ein konkret und faßbar gewordener symbolistischerTraum, ein Naturzustand in den Begriffen der Zivilisation. Alle meine Gäste habe ich stets in den Gradierbau geführt, und alle verstanden sofort die fast sakrale Gegenwart dieses Ortes, den ich auf die geschilderte Weise bereits in meinen ersten Lebensmonaten kennengelernt habe unter dem Patronat meiner Urgroßmutter Else.
    All das, was die Urgroßmutter, den Erzählungen nach, damals mit mir unternommen haben soll, habe ich seitdem mein ganzes Leben lang immer wieder gemacht. Als ich siebzehn, achtzehn Jahre alt war, fuhr ich jeden Tag von Friedberg nach Bad Nauheim in den Kurpark, und auch die Gradierbauten suchte ich so oft auf, wie es ging. Enten, vor allem Stockenten, sind noch immer meine Lieblingstiere. Wie ich später die Einrichtung im Untergeschoß der Uhlandstraße genau so wiederherzustellen versuchte, wie sie zur Zeit meines Großvaters und meiner Großmutter gewesen war, das Eßzimmer mit der Anrichte, der Tischgruppe und der Gästeliege, das Wohnzimmer mit den sogenannten Herrenzimmermöbeln meines Großvaters, den
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