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Endlich in Frieden mit den Eltern - und frei für das eigene Leben - Was Menschen bewegt

Endlich in Frieden mit den Eltern - und frei für das eigene Leben - Was Menschen bewegt

Titel: Endlich in Frieden mit den Eltern - und frei für das eigene Leben - Was Menschen bewegt
Autoren: Manfred Scherrman
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anschließend gerne weiter gelernt und wollte wie sein älterer Bruder ins Internat, um das Abitur zu machen: »Mein Vater sagte, für zwei Kinder könne er das nicht zahlen. Aber das wäre irgendwie schon gegangen, er hätte mir das ermöglichen können. In Wirklichkeit wollte er nur, dass einer seiner Söhne in der Nähe blieb und auf dem Hof mithelfen konnte. Außerdem hatte er wohl die Sorge, wenn wir beide so viel lernten, wären wir für den Hof verloren. Und dass es da weiterging, das war ihm das Allerwichtigste. Er hat mich sozusagen dem Hof geopfert.«
    Oder die 60-jährige Frau F.: »Meine Eltern kannten nur Arbeit. Sie waren ausgebombt und mussten nach dem Krieg praktisch bei null anfangen. Das ging ja vielen Menschen damals so, doch ich fand es bei uns schon extrem und abartig. Ich habe mich immer mit meiner besten Freundin verglichen. Da war die Familie auch ausgebombt, aber wenigstens am Sonntag war mal Pause, und die Eltern haben was mit den Kindern unternommen, Verwandte besucht oder mal eine Wanderung gemacht. Das hätte ich mir auch gewünscht, und das wäre nach meiner festen Überzeugung auch möglich gewesen. Aber immer nur arbeiten, arbeiten, arbeiten. Mein Bruder und ich waren überhaupt nicht im Blick, nie hatten sie wirklich Zeit für uns. Im Grunde waren wir Kinder ihnen lästig.«
    Richten wir für einen Moment den Blick weg von den Eltern auf uns selbst: Wie steht es da mit dem Wollen und Können? Schaffe ich immer alles, was ich will? Oder zumindest das, was mir sehr wichtig ist? Was ich unter allen Umständen will? Und wenn ich etwas nicht schaffe, liegt das an meiner Unfähigkeit oder an meinem mangelnden Willen? Oder habe ich mich schlichtweg nicht genug bemüht, habe ich es mir zu leicht gemacht?Sicher fallen die Antworten nicht immer gleich aus. Manchmal fehlt es wirklich an der nötigen Anstrengung und Ausdauer, um etwas gut hinzukriegen, und manchmal führt alle Mühe nicht zu dem gewünschten Ergebnis. Selbst wissen wir meist schon, ob wir alles getan haben, was wir konnten, oder ob noch mehr möglich gewesen wäre. Das von außen zu beurteilen ist aber nicht so einfach. Meist würden wir uns kritische Kommentare verbitten. Wir haben es so gemacht, wie es für uns in der Situation gepasst hat. Manchmal wollen wir vielleicht auch nicht mehr investieren, oft geht nicht mehr. Und manchmal machen wir etwas nicht, weil wir spüren, wir haben nicht die dazu nötige Kraft, auch wenn wir es eigentlich wichtig finden und gerne tun würden.
    Mit dem Wollen und Können ist das also eine komplizierte Sache. Das sehen wir bei uns selbst. Wie können wir da so sicher sein, dass unsere Eltern gekonnt hätten, wenn sie nur gewollt hätten? Warum urteilen wir da so hart und nicht so differenziert wie bei uns selber?
    Das hängt zum einen damit zusammen, dass wir uns von unseren Eltern sehr verletzt fühlen. Es ist verständlicherweise nicht leicht, jemandem mildernde Umstände zuzubilligen, der uns sehr wehgetan hat. Zum anderen ist pauschales Verurteilen immer dann einfach, wenn wir zu wissen meinen, genau betrachtet aber nur wenig wissen. Dann sind wir mit Urteilen bisweilen rasch bei der Hand. So erlauben wir uns selbstverständlich ein Urteil über unsere Kindheit und unsere Eltern – wir haben ja alles selber erlebt und wissen also, wie es war.
    Dass unsere Eltern diese Zeit ganz anders erlebt haben, berücksichtigen wir dabei nicht. Wir als Kinder haben ja nur einen Ausschnitt ihres Lebens mitbekommen, einen kleinen Teil ihrer Wünsche, Sorgen und Probleme, und wir haben uns darauf einen Reim gemacht, der nicht oder nur zum Teilzutrifft. Vielleicht hatten sie eine Menge an Herausforderungen zu bewältigen, von denen wir nicht viel bemerkt haben. Oder sie waren als Kinder ihrer Zeit überzeugt, mit ihren strengen Erziehungsmethoden einschließlich Schlägen das Beste für ihre Kinder zu tun. Wir urteilen also aus einer sehr eingeschränkten kindlichen Sicht.
    Und außerdem: Mit welchem Recht stellen wir an unsere Eltern so hohe moralische Anforderungen? Wir werden unseren Kindern doch auch längst nicht immer in der Weise gerecht, wie wir es eigentlich wollen, und bleiben ihnen manches schuldig – wieso sollte das bei unseren Eltern anders sein? Wie würde es uns denn gehen, wenn unsere eigenen Kinder über uns als Mütter oder Väter derart urteilen würden? Würden wir das nicht als selbstgerecht empfinden? Wie kommen wir dazu, bei unseren Eltern andere Maßstäbe als bei uns selbst
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