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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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erinnern, wie sie auf der Bettkante gesessen und die geschlossene Tür angeschrien hatte, nicht mit Worten, sondern bloß als Protest gegen ihre jüngste Bestrafung, doch wenn die Kinder ihre Mutter gefragt hatten, wie Emily gewesen sei, hatte ihre Mutter bloß geantwortet: «Sie hatte auch ihre schlechten Momente.»
    Ihre Mutter war ein besserer Mensch gewesen als sie. Nicht alle Leute konnten das sagen oder es zugeben, aber Emily wusste, dass es stimmte, genauso wie Henry ein besserer Mensch gewesen war als sie. Beide hatten ihr Bestes getan, um sie vor sich selbst zu schützen. Das war keine plötzliche Erkenntnis, und doch hatte sie nie an beide zusammen gedacht wie jetzt.
    «Seltsam», sagte sie, ließ den Blick über die Stadt schweifen und biss sich auf die Lippe, als könnte der Gedanke irgendwohin führen. Das war nicht nötig. Aus diesem Grund war sie hergekommen, und statt zerknirscht zu sein, schätzte sie sich glücklich und war dankbar.
    Sie grub das Loch fertig und setzte die Cosmeen hinein, trat die lose Erde vorsichtig mit den Zehen fest, um die Stängel nicht zu beschädigen, und goss dann beide Pflanzen noch einmal. So ungeschützt gab sie ihnen hier oben keine große Chance, doch fürs Erste sahen sie gut aus, ein strahlender Farbenrausch. Es gab nichts mehr zu tun, trotzdem wollte sie noch nicht gehen, sondern blieb ein paar Minuten da, trank ihren Eistee, während die Ramme den Takt schlug, bevor sie die Hand auf beide Grabsteine legte - erst den ihres Vaters, dann den ihrer Mutter - und alles zum Wagen zurückschleppte. Da sie zweimal gehen musste, hatte sie genug Zeit, sich zu verabschieden.
    Im Ort hatte sich seit ihrem letzten Besuch nur wenig verändert. Das Gerichtsgebäude stand behäbig an dem schattigen Platz, der Zugang flankiert von Kanonen. Das Clarion Hotel, das Penn Royal und das Woolworth, wo sie sich jedes Jahr im Frühling mit ihrer Mutter die neuen Schnittmuster ausgesucht hatte, gab es schon lange nicht mehr. Früher hatte sie jeden Laden an der Main Street gekannt, bis zu dem Billardsalon am anderen Ende, den ihr Vater die Schlägerspelunke genannt hatte. Inzwischen kam ihr nur noch ein Cafe namens The Busy Bee halbwegs vertraut vor, das aber geschlossen war. Selbst die Sheetz-Tankstelle an der Ampel, wo früher die alte Sinclair gewesen war, hatte den Inhaber gewechselt und gehörte inzwischen zu Get’n’Go. Und dennoch waren das Erscheinungsbild und die Größe - die Atmosphäre - von allem gleich geblieben, auch der Umstand, dass sich kein Mensch auf der Straße befand, obwohl es erst kurz nach Mittag war.
    In den ruhigen Seitenstraßen hatte sich gar nichts verändert. Die Grace Methodist Church, die Leihbücherei, das Postamt und die düster-gespenstischen neogotischen Häuser in der Court Street, an denen sie, die frisch ausgeliehenen Bücher an die Brust gedrückt, bei Einbruch der Dunkelheit vorbeigeeilt war, waren alle noch so, wie Emily sie in Erinnerung hatte. An der Center Street bog sie rechts ab. Ihr fiel auf, dass sie die Strecke abfuhr, auf der sie immer nach Hause gegangen war. Das hatte nichts Unterbewusstes: Es gab nun mal nicht allzu viele Straßen.
    Es war zu einem festen Brauch geworden, dass sie das alte Haus besuchte. Beim letzten Mal hatte sie festgestellt, dass die neuen Besitzer das eingeschossige Haus, ohne Rücksicht auf die Nachbarn, himmelblau gestrichen und lavendelfarben verblendet hatten. Vermutlich sollte das neckisch und außergewöhnlich sein, doch es sah grell und abstoßend aus, ein aus Farbenblindheit begangenes Verbrechen gegen das Haus und die Stadt. Am liebsten hätte sie unverzüglich Farbe und Pinsel geholt und es überstrichen.
    Während sie um die Ecke bog, erwartete sie, die pastellfarbene Ungeheuerlichkeit zu erblicken, und war einen Augenblick verwirrt, als ihr das Haus nicht ins Auge sprang. Stattdessen sah sie, dass die derzeitigen Besitzer - als hätten sie von ihrem Besuch gewusst - wieder zum ursprünglichen Weiß mit waldgrünen Fensterläden zurückgekehrt waren.
    Sie hielt vor dem Haus, ließ den Motor laufen und beugte sich über den Beifahrersitz, um besser sehen zu können. Die Hortensien ihrer Mutter blühten, und am Verandageländer hingen Blumenkästen voll wuchernden Petunien. Auf einer Seite war eine weiße Schaukel aus Korbgeflecht an der Decke befestigt, die ihr die Verandaschaukel aus Holz ins Gedächtnis rief, auf der sie und ihre Mutter an den trägen Sommernachmittagen gesessen und Erbsen enthülst oder
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