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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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sie nicht beheben konnte. Schwerfällig und unverrückbar, waren sie außerstande, ihre Mutter und ihren Vater zu repräsentieren. Auch wenn Emily bei ihrem eigenen Stein die klare Schlichtheit von Namen und Lebensdaten bevorzugte, konnte sie verstehen, warum die Ägypter ihre Sarkophage mit einem Bildnis des Toten verzierten und die Japaner Fotos an den Grabsteinen befestigten. Ein Besuch war nicht nur ein Achtungsbeweis, sondern diente auch dazu, sich einem geliebten Menschen näher zu fühlen, und obwohl Emily vor den Gräbern ein leichter Schwindel ergriff, wusste sie wie bei Henry, dass ihre Eltern nicht wirklich hier waren, was zwar einen Sinn ergab, doch in gewisser Hinsicht auch enttäuschend war, als sei sie nach ihrer langen Fahrt letztlich an den falschen Ort gekommen.
    Warum war sie nie mit den Gegebenheiten zufrieden? «Tut mir leid, Emmy», würde ihre Mutter mit der aufreizenden Geduld einer Lehrerin sagen, «aber so funktioniert die Welt nicht.»
    Inzwischen wusste sie das, und dennoch spielte es keine Rolle. Wie ein kleines Kind wollte sie sich der Welt nicht unterordnen. Sie blieb noch einen Augenblick vor ihren Gräbern stehen und sprach ein Gebet, dann ging sie zum Wagen zurück, um die Gießkanne und eine Schaufel zu holen.
    Es war genauso heiß wie neulich, und sie achtete darauf, dass sie sich nicht übernahm. Als sie das erste Loch gegraben hatte, legte sie eine Pause ein, setzte sich in den gefleckten Schatten einer Gleditschie und trank aus ihrer Thermoskanne Eistee. Auf die fernen Hügel hatte sich ein grauer, nebelartiger Dunst gelegt. Es wehte kein Wind, nicht das geringste Lüftchen. Die Ramme ging ihr allmählich auf die Nerven, und sie musste an die Grafton Street und an Rufus denken, der vermutlich in ihrem Zimmer schlief und vom Lärm draußen nichts mitbekam. Sie hatte schon begonnen, für Chautauqua zu packen. Wenn sie gewusst hätte, dass die ganze Straße aufgerissen werden sollte, hätte sie das Ferienhaus für den gesamten Monat gebucht. Es gab keinen Grund, in der Stadt zu bleiben. Von ihrem Platz aus sah sie, wie sich die Irishtown Road nordwärts durch den Staatswald nach Saint Marys zog, und stellte sich vor, in den Wagen zu steigen und der Straße zu folgen. Sie konnte geradezu hören, wie sie Arlene bat, bei ihr vorbeizufahren und Rufus abzuholen.
    Die Vorstellung, wieder nach Hause zu fahren, ermüdete sie. Wenn sie es zuließe, könnte sie den ganzen Tag hier sitzen, vielleicht sogar schlafen, am Fuß des Baumstammes hingestreckt wie der Narr in einem Tarotblatt.
    «Beweg dich», sagte sie kategorisch und erhob sich langsam mit knirschenden Knien.
    Warum war sie so lustlos? Es war ein guter Tag gewesen - geradezu ideal. Die Fahrt war erstaunlich angenehm verlaufen. Der Blick auf Kersey war herrlich. Niemand störte sie in ihrer Abgeschiedenheit, und doch war sie enttäuscht, oder war diese Traurigkeit hier ganz natürlich? Ihre Eltern waren schon lange nicht mehr hier, genau wie sie. Warum erwartete sie nach all den Jahren, plötzlich zu einem neuen Einvernehmen zu gelangen? So sehr man sich das auch wünschen mochte, die Vergangenheit ließ sich nicht ändern.
    Beim Graben des zweiten Lochs begriff sie, dass das stimmte. Sie würde danach beurteilt werden, wie sie ihr Leben gelebt hatte, nicht danach, wie sie es sich gewünscht hätte. Das akzeptierte sie voll und ganz. Ihre Fehler waren ihr schmerzlich bewusst. Sie beichtete sie jeden Sonntag, und auch wenn ihr Gewissen keineswegs rein war, hatte sie keine größeren Schuldgefühle als die meisten Menschen, zumindest hoffte sie das.
    «Sei so gut und hol mir mein Nähzeug», hatte ihre Mutter sie gebeten. «Sei so gut und hol die Bettlaken rein.»
    War sie ein gutes Kind gewesen?
    Das hätte sie gern geglaubt.
    Hätte es noch besser sein können?
    Ja.
    Von allen Menschen hatte sie Henry am besten behandelt, aber selbst da hatte sie einiges zu bedauern. Ihr Vater und sie waren gut miteinander ausgekommen, doch am Ende hatte er immer getan, was ihre Mutter verlangte, ein Verrat, den Emily in jenem Alter nicht verzeihen konnte, derselbe Verrat, den ihre eigenen Kinder ihr vorwarfen: dass sie stets die Hausaufgaben machen mussten, bevor sie zum Spielen rausdurften, dass Emily sie in der Schule keine zerrissene Jeans tragen ließ, dass sie ihnen Stubenarrest gab, weil sie aus dem Kühlschrank im Keller Bier stibitzt hatten. Sie war sicher, dass sie als Kind noch uneinsichtiger gewesen war als Margaret. Sie konnte sich noch
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