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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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neben ihnen. Nicht einmal hier konnte Emily ihr entrinnen.
    Obwohl sie wusste, dass es töricht war, trat sie nicht auf die Gräber, sondern ging außen herum, auf einem imaginären Gang zwischen den Grabstellen, als könnten die Toten hören, wie sie über ihnen herumstapfte. Sie blieb an Henrys Grab stehen und legte die Hand auf die gewölbte Kante seines Steins wie auf seine Schulter, dann wappnete sie sich, beugte sich vor, wobei ihr einen Augenblick der Atem wegblieb, und stellte den Topf ins Gras. Hoffentlich störte ihn das Rosa nicht.
    «Ich bin gleich wieder da», sagte sie, aber als sie vorsichtig zum Wagen hinabstieg, kam sie sich albern vor. Bei ihren ersten Besuchen hatte sie noch seine Stimme im Kopf gehört und sich Gesprächen hingegeben, die sie auch zu Hause hätten führen können. «Ich weiß nicht, was ich wegen Margaret tun soll», hatte sie dann gesagt und ihn antworten hören: «Sie ist erwachsen, du musst ihretwegen nichts mehr tun.» Doch jetzt hörte sie nur sich selbst, und sie klang kindisch und sentimental, womit er auch schon vor seiner Krankheit keinerlei Nachsicht gehabt hatte. «Red nicht mit mir, als wäre ich ein Idiot», hatte er einmal in seinem Krankenhausbett geschimpft. «Ich liege im Sterben, aber ich bin nicht dumm.» Sie verstand ihn genau. Sie war so praktisch veranlagt und auch so zornig wie er oder war es zumindest damals gewesen. Sie befürchtete, dass die allein verbrachten Jahre sie verschroben und rührselig gemacht hatten, wie ihre Mutter, die weiter in dem alten Haus gewohnt hatte und jedes Mal, wenn sie zu Besuch kamen, wunderlicher war und von Leuten, die längst tot waren, so redete, als wäre sie ihnen gerade im IGA begegnet. Genau das war die Gefahr, dass man sich ins Totenreich der Vergangenheit zurückzog, doch was blieb einem anderes übrig?
    Trotz der offenen Heckklappe war es im Wagen so heiß wie in einem Backofen. Sie musste den Korb und die Gießkanne abstellen, um die Heckklappe zu schließen, stieg dann wieder die drei Stufen hoch und stapfte bergauf. Die Wettervorhersage war falsch - es war noch nicht Mittag, aber schon heißer als angekündigt. Sie stellte sich vor, wie schlimm es bei dem Lärm und dem Staub in der Grafton Street sein musste, und war dankbar, hier zu sein.
    «Dann mal los», sagte sie wie eine Krankenschwester.
    Sie hatte ihren Hocker nicht mitgebracht und ließ sich steif ins Gras nieder, wobei sie die letzten paar Zentimeter fiel und mit der ausgestreckten Hand den Korb umkippte, aus dem ein Gewirr von Handschuhen quoll. «Sehr graziös, Emily.»
    Irgendwo hinter dem Teich sprang knatternd ein Rasenmäher an, heulte auf und fuhr dröhnend los. Emily rückte ihren Sonnenschild zurecht und zog ihre Handschuhe an, suchte sich eine Stelle in der Mitte des Grabes aus und machte sich mit ihrer Schaufel an die Arbeit. Unter dem Gras war der Boden steinhart. Sie hackte darauf ein und zog kleine Grassoden heraus.
    Warum hatte sie gedacht, es würde einfach sein?
    Hinter der Gruft der Spruills befand sich ein Wasserhahn, und sie ging mit der Gießkanne hinüber und ließ sie halbvoll laufen. Sie konnte sie kaum mit beiden Händen hochheben und musste unterwegs stehenbleiben, um die Finger zu bewegen.
    Sie goss den gesamten Inhalt der Gießkanne auf das gerade entstehende Loch. Statt einzuziehen, bildete das Wasser jedoch eine Pfütze und floss wie Quecksilber durchs Gras.
    «Also ehrlich.»
    Sie mühte sich eine Weile mit der Schaufel ab, ging dann wieder Wasser holen, und diesmal musste sie zweimal stehenbleiben. Das Wasser schien einzuziehen, doch als sie sich setzte und zu graben begann, gab der Boden nicht nach. Sie ruhte sich aus und verschnaufte. Die Sonne stand inzwischen höher. Emily schwitzte, ihre Handschuhe waren ganz schmutzig, und sie war versucht, alles zusammenzupacken und am nächsten Tag mit einer großen Schaufel wiederzukommen.
    Um aufzustehen, musste sie erst auf alle viere gehen, sich zurücklehnen und einen Fuß flach auf den Boden stellen, sich dann mit der Hand an Henrys Grabstein abstützen und sich irgendwie hochziehen und -stemmen. Sie war müde und erhitzt, und es war anstrengend, obwohl sie, wie Dr. Sayid immer sagte, kaum etwas wog. Sie stand noch nicht wieder ganz richtig und sagte sich gerade, wie wenig Kraft sie doch hatte - welch geringe Reserven jemand in ihrem Alter besaß -, als ihr plötzlich schwindlig wurde. Ihr Blick trübte sich, und ein Schatten legte sich zwischen sie und die Welt. Aus Angst,
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