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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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erinnert. Ihr wurde klar, dass sie, außer täglich herzukommen, nichts tun konnte, doch auch jetzt, als Gärtnerin, konnte sie sich nicht zu diesem Opfer durchringen. Andererseits konnte sie schlecht mit leeren Händen auftauchen. Nach einer längeren Beratung mit Mike Hornek in der Gärtnerei entschied sie sich für eingetopfte Cosmeen, je eine für Henry und Louise. Wenn es, während Emilys Aufenthalt in Chautauqua überhaupt einmal regnete, hatten die Pflanzen zumindest eine Chance.
    Um zum Friedhof zu gelangen, musste sie durch Garfield fahren, ein Viertel, das sie grundsätzlich mied. Die preiswerten italienischen Restaurants, in denen sie mit Henry während der Collegezeit oft gegessen hatte, waren verschwunden und hatten sich in Nagelstudios und Hinterzimmerkirchen verwandelt, die Gehsteige waren mit Müll übersät. Aus ihren Lautsprechern plätscherte ein damit unvereinbares Stück von Albinoni.
    Sie hätte Arlene bitten sollen mitzukommen. Seit sie sich entschieden hatte zu fahren, ließ ihr dieser Gedanke keine Ruhe, und obwohl ihr Entschluss völlig gerechtfertigt war - von all ihren Aufgaben war das die persönlichste -, war ihre Beziehung im vergangenen Jahr so eng geworden, dass sie das Gefühl nicht loswurde, Arlene irgendwie zu hintergehen.
    Der Uhr im Armaturenbrett zufolge war es kurz vor zehn. Sie hatte es so einzurichten versucht, dass sie beim Offnen der Tore eintraf, und als sie von Ampel zu Ampel durch die schäbige Hauptstraße glitt, war sie erstaunt, außer ein paar drallen Frauen, die an Bushaltestellen standen, die üblichen Taugenichtse vor den Eingängen herumlungern und auf Frühaufsteher warten zu sehen. Sie hielt den Blick nach vorn gerichtet und war erleichtert, als sie schließlich zwischen den Säulen hindurchfuhr und die Welt der Lebenden hinter sich ließ.
    Auf dem Friedhof herrschte die geordnete Vergangenheit. Die schiefergedeckte gotische Kapelle mit ihrem Rosettenfenster und den mit Grünspan überzogenen Abflussrohren sah aus, als wäre sie Stein für Stein aus den Hochmooren Yorkshires hertransportiert worden. Die Rasenflächen waren in tadellosem Zustand wie Fairways, alle Bäume und Büsche liebevoll gepflegt, ihre Schatten im klaren Morgenlicht dunkel und scharf. Es war niemand zu sehen, das Einzige, was sich bewegte, war ein leuchtender Kardinalvogel, der über die Straße flatterte und sich auf einem Schneeballstrauch niederließ, was sie als gutes Zeichen betrachtete.
    Emily musste nicht bei der Friedhofsverwaltung vorbeifahren. Obwohl sie die Bereichsnummer längst vergessen hatte, kannte sie den Weg auswendig und schlängelte sich zwischen den terrassenförmigen Hügeln und den Hainen hindurch, während sich die Straße immer wieder teilte. Emily beneidete den Friedhof um die speergleichen Pappeln und den japanischen Ahorn, dunkel wie Portwein. Das Gelände erstreckte sich immer weiter, groß und breit wie ein Park, ein endloser englischer Garten in voller, ungestümer Sommerblüte, die Natur zur Erbauung des umherschlendernden Besuchers halb gebändigt. Sie fuhr an flechtenüberzogenen Mausoleen und Obelisken vorbei und nickte ihren Lieblingswerken wie dem knienden, harfenflügeligen Engel und Mr. Vandergrifts lächerlich bombastischer korinthischer Säule zu. Die grob behauenen Felsblöcke und die rissigen Marmorsarkophage, die kunstvollen Basreliefs - diese grandiose Beständigkeit würde sie stets beeindrucken. Hier befand sich die Geschichte Pittsburghs, in Grüften und bronzenen Kriegsdenkmälern, die Industriellen und Künstler, die Schauspielerinnen und Architekten. Als sie aus Kersey kam, hatte sie gedacht, es sei eine Ehre, hier begraben zu sein, und das dachte sie immer noch. So makaber es auch klingen mochte, sie würde stolz sein, eines Tages neben Henry zu liegen.
    Sie wusste, dass die Vorstellung, er sei hier, eine Illusion war. Henry war niemand, der lange verweilte. Sein Geist oder seine Seele war davongeschwebt, um jegliche Arbeit, die gebraucht wurde, freudig in Angriff zu nehmen. Und doch, als sie um die letzte sanfte Kurve bog, langsamer wurde und an die Seite fuhr, flatterte ihr das Herz vor Erwartung, halb aus Aufregung, halb aus Angst, als könnte er sie ausschimpfen, weil sie zu spät kam.
    Ihre Tür entriegelte sich automatisch - das Einzige, was ihr an dem Subaru nicht gefiel. Sie war allein, stieg aus dem klimatisierten Wagen und trat in die drückende Reglosigkeit. Der Teich, mehrere Grabreihen weiter unten, war mit Seerosenblättern
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