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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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sie könnte nach hinten fallen und sich den Kopf anschlagen, hielt sie sich mit beiden Händen am Grabstein fest. In der Hoffnung, der Anfall würde vorübergehen, klammerte sie sich an den Stein und sah währenddessen Arlene im Eat ‘n Park vor ihrem geistigen Auge.
    Verstört dachte sie, wenn sie jetzt stürbe, sei sie froh, dass es hier passierte.
    Glaubte sie das wirklich? Denn sie wollte gar nicht sterben. Sie wollte nach Chautauqua fahren. Sie wollte die Kinder sehen. Sie war bloß theatralisch, wie ihre Mutter ihr oft vorgeworfen hatte.
    Völlig reglos wartete sie auf das Abklingen des Schwindelgefühls, und allmählich meldeten sich ihre Sinne zurück, als würde ein eingeschlafenes Bein wieder durchblutet. Sie griff sich mit der Hand an die Kehle. Ihr Puls war in Ordnung. Sie war bloß zu schnell aufgestanden.
    «Immer mit der Ruhe, Bleifuß», sagte sie, als redete sie mit Rufus. «Das Leben ist kein Wettrennen.»
    Sie hörte auf ihren eigenen Rat und machte eine Pause, bevor sie die Gießkanne zum Wasserhahn schleppte, und dann ließ sie sie auch nur viertelvoll laufen. Sie ging viermal und durchnässte den Boden gründlich, ehe sie sich wieder hinsetzte. Es schien zu helfen. Langsam, aber sicher, kam sie voran. Sie grub und ruhte sich aus, grub und ruhte sich aus, nahm die Schaufel mal in die eine, mal in die andere Hand. Sie beugte sich über das Loch, hackte am Rand etwas weg und schaufelte alles heraus. Jeder, der sie so sah, würde sie bestimmt für eine Verrückte halten, die in ihrer unangemessenen Kluft auf Henrys Grab einstach. Das war ihr egal. Es gab keine Garantie, dass die Cosmeen diese Woche, geschweige denn den Winter, überstehen würden, doch Emily war schon völlig schmutzig, und die Bepflanzung des Grabs war der Grund, warum sie hergekommen war. Sie würde nicht gehen, bevor sie fertig war.
     
    In der alten Heimat
     
    Wenn Emily etwas von ihrer Liste erledigt hatte, hob das ihre Stimmung beträchtlich und ermunterte sie, größere Ziele in Angriff zu nehmen. Bestärkt durch ihren Erfolg und angestachelt von der rasch verstreichenden Zeit, verstaute sie ein paar Tage nach dem Besuch an Henrys Grab zwei Töpfe Cosmeen im Subaru und brach nach Kersey auf.
    Sie fuhr frühmorgens vor dem Eintreffen der Arbeiter los und nahm die Abkürzung durch den Zoo. Die Sonne über dem See war blendend hell. An der Brücke staute sich bereits der Verkehr. Als sie den Fluss überquert hatte und auf der 28 nordwärts fuhr, löste sich der Stau auf, und schon bald war sie, abgesehen von einem gelegentlichen Schulbus oder Kohlelaster, allein auf der Straße, die Windschutzscheibe von blauem Himmel erfüllt.
    Ihr letzter Besuch in Kersey lag gut zehn Jahre zurück, doch damals war Henry gefahren. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie zum letzten Mal selbst hingefahren war, obwohl sie, als die Kinder noch klein waren, oft genug ihre Schlafsäcke und Kissen in den Kombi gepackt und sich auf den Weg gemacht hatte. Damals war die 28 noch eine kurvenreiche einspurige Straße gewesen, die sich über Hügel und durch Niederungen schlängelte und auf der man in jedem kleinen Dorf, das an einer Kreuzung lag, langsamer fahren musste. Inzwischen war das erste Stück eher eine Interstate, die an Orten wie Slate Lick und Ford City vorbeiführte, deren Autokinos und Reklametafeln sie wie Kilometersteine abgehakt hatten. Sie vertrieben sich die Zeit mit Spielen. «Ich sehe was, was du nicht siehst» war Kenneths Lieblingsspiel gewesen. Wie enttäuscht er jetzt wäre. Auf beiden Seiten nichts als Wald und in der Mitte ein Grünstreifen. Es gab nichts, was den Fahrer ablenken konnte, und obwohl man jetzt viel schneller vorankam, empfand sie es als Verlust und war froh, als die Straße bei Kittanning einspurig wurde und über eine holperige Ausfahrt zu einer Ampel führte, an deren Aufstellung sie sich noch erinnern konnte.
    Von dort an war ihr die Straße vertraut, jede Kurve und Senke ein alter Freund. Schrottplätze und Weihnachtsbaumplantagen, Jagdhütten und Blockhauskneipen. Es war wie eine Rückkehr in die Vergangenheit. Sie freute sich, dass das Twin Pines gut lief, und fand es amüsant, dass die schwarze Scheune mit der Reklame für MAIL POUCH-Kautabak immer noch stand, das Schild verblasst, aber noch lesbar: GÖNNEN SIE SICH DAS BESTE.
    «Ja», sagte Emily, «warum nicht?»
    Sie war froh, die Stadt hinter sich zu haben und allein zu sein, ein Ziel zu haben, ein Vorgeschmack auf die Fahrt nach Chautauqua, zu
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