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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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Grafton Street waren schwarz und kahl, und die tief hängenden Wolken gaben einem das Gefühl, es wäre spätnachmittags, nicht morgens. Das Haus der Millers stand immer noch zum Verkauf. Das Laub war noch nicht zusammengeharkt worden und bedeckte den ganzen Garten, eine dunkle, durchnässte Masse. Emily fragte sich, wer um diese Jahreszeit wohl ein Haus kaufen würde. Als Letztes hatte sie gehört, Kay Miller sei in eine Anlage für betreutes Wohnen in Aspinwall gezogen, aber das war im August gewesen. Emily dachte, dass sie sie einmal besuchen sollte, doch in Wahrheit hatte sie dazu nicht die geringste Lust.
    Wenn sie sich die elegante, flatterhafte Kay Miller in einer Wohnanlage wie in Aspinwall vorstellte, stand ihr unwillkürlich Louise Pickerings letztes Krankenzimmer vor Augen. Die kahlen beigen Wände, das Pflegebett, der Plastikkrug mit dem Knickstrohhalm auf dem Rolltisch. Eigentlich wusste sie, dass solche Zimmer sehr schön sein konnten, fast so gemütlich wie das eigene Schlafzimmer, doch das Bild von Louise ging ihr nicht aus dem Kopf, genauso wenig wie die Vorstellung, in einem Alter zu sein, das von Stille und Warten geprägt war - was zwar nicht stimmte, aber sie wurde den Gedanken nicht los.
    Emily ging allmählich dem Tod entgegen, ja, schön und gut, das galt für sie alle. Wenn Dr. Sayid glaubte, sie sei deshalb am Boden zerstört, zeigte das nur, wie jung er noch war. In Hysterie zu verfallen hatte keinen Sinn. Es war nicht das Ende der Welt, nur ihr eigenes Ende, und in letzter Zeit war sie zu der Überzeugung gelangt, dass es ganz natürlich und vielleicht sogar wünschenswert war, wenn es mit einem Mindestmaß an Würde ablief und nicht sinnlos in die Länge gezogen wurde wie bei Louise, die all diese qualvollen, verzweifelten Eingriffe über sich ergehen lassen musste, weil Timothy und Daniel sich geweigert hatten aufzugeben. Emily hatte nicht vorgehabt, achtzig zu werden. Eigentlich hatte sie auch nicht vorgehabt, Henry zu überleben.
    Von der Heizung stieg eine abgestandene, metallische Wärme auf, und ihre Schienbeine glühten. Mit ihrem bis zum Hals zugeknöpften Mantel und dem hineingesteckten Schal war es drückend heiß. Sie ließ den Vorhang los und drehte sich um.
    Auf dem Läufer in der Diele saß Rufus in Habachtstellung und starrte die Tür an, als könnte er sie durch reine Gedankenkraft öffnen.
    «Ich hab dir gesagt, dass du nicht mitkommst», ermahnte ihn Emily. «Leg dich hin. Los.»
    Widerwillig trottete er zu seinem Platz am Fuß der Treppe, drehte sich zweimal im Kreis und ließ sich dann mit einem beleidigten Schnaufen auf den Flickenteppich sinken, die Schnauze auf Emily gerichtet.
    «Jaah», sagte sie, «ich behalte dich auch im Auge, Freundchen. Ich will nichts vorfinden, wenn ich nach Hause komme. Du weißt, wovon ich rede.»
    Er sah sie schuldbewusst an, als könnte er ihre Worte verstehen, und sie sagte sich, dass es nicht seine Schuld war. Genau genommen war er älter als sie, steinalt für einen Springer Spaniel, und in letzter Zeit hatte er sich angewöhnt, den größten Teil des Tages zu schlafen, genau wie Duchess vor ihrem Tod. Im Gegensatz zu früher konnte er auch ungezogen sein und im Müll herumwühlen, ein Stuhlbein anknabbern oder direkt vor ihren Augen auf den Teppich pinkeln, als wäre er altersschwach. «Was soll ich bloß mit dir machen?», fragte sie dann, als spräche sie mit einem Kind, denn eine Antwort bekam sie nicht. Sie konnte ihn nur ausschimpfen und hinter ihm sauber machen, und wenn sie ihn, wie jetzt, allein zu Hause ließ, machte sie sich Sorgen.
    Sie hörte Arlenes Wagen zuerst. Als sie durch die dünnen Vorhänge blickte, sah sie einen großen dunklen Fleck in der Einfahrt.
    Rufus bellte drohend und stemmte sich vom Teppich hoch. «Danke», rief sie, während er bellend zur Tür lief. «Das ist doch jemand, den wir kennen.»
    Aber er wollte nicht aufhören, woraufhin sie «Platz!» rief und ihn mit dem Finger stupste, und als er zurückzuckte, bekam sie ein schlechtes Gewissen.
    «Ich komme ja wieder», sagte sie und zog ihre Handschuhe an. «Sei brav.»
    Sie hatte sich erst gestern das Haar frisieren lassen und zurrte ihre durchsichtige Plastikregenhaube fest, bevor sie die Sturmtür aufstieß, sie mit der Hüfte offen hielt und den Regenschirm aufspannte. Als sie sich nach draußen schob, schlug ihr die Kälte entgegen - feucht, aber nicht so rau, wie sie befürchtet hatte. In letzter Zeit klemmte der Riegel der Sturmtür und blieb
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