Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
Vom Netzwerk:
wie Arlene zu langsam fahren. Als sie auf ihren Tacho blickte, ärgerte sie sich noch mehr. Sie fuhr schon so schnell, wie es erlaubt war.
    Sie blieb nur bis zur nächsten Ausfahrt auf der Interstate. Genau genommen hatte sie die 28 gar nicht verlassen, es war bloß eine Umgehungsstraße, auf der der Durchgangsverkehr die Innenstadt von Brookville umfahren konnte, und die vermisste sie ganz und gar nicht. Sie blieb auf der rechten Spur, und als sie abfuhr, war sie froh, die 80 wieder den Lastwagenfahrern und Rasern zu überlassen.
    Hinter der Abzweigung nach Munderf führte die Straße in das zerklüftete Hügelland und wand sich durch tiefe Wälder, der Asphalt uneben und von den Holztransportern voller Spurrillen, überall Wildwechsel-Schilder und verschmutzte Abfahrten zu Wanderwegen. Neben einem Forsthaus mit geschlossenen Fensterläden stand Smokey der Bär mit seiner Schaufel Wache und übertrug ihr allein die Aufgabe, Waldbrände zu verhindern. Jetzt dauerte es nicht mehr lange, höchstens noch zwanzig Minuten, und sie beglückwünschte sich, dass sie es so weit geschafft hatte. Noch war Zeit umzukehren - aber was sollte dieser Gedanke? Sie war nicht bloß wegen ihrer Eltern gekommen, aus reiner Kindespflicht. Sie war auch um ihrer selbst willen hier.
    Brockway war der letzte größere Ort - neben der alten Glasfabrik hohe Palettenstapel mit verschiedenfarbigen Ziegelsteinen -, und dann war sie wieder in der tiefsten Provinz.
    Der Toby Creek mäanderte in breiten Bögen die Straße entlang und floss dann darunter hindurch. Kilometer um Kilometer folgte sie ihm wie ihrem Leben, stromaufwärts bis zur Quelle. Als sie durch Crenshaw, Brockport und Challenge mit ihren Kommissionsläden, Fischteichen und Gebrauchtwagenhändlern fuhr, dachte sie, dass all das ihr gehörte, ihre Heimat war. Sie hätte sich gern bei ihrer Mutter entschuldigt und fragte sich, ob es dafür zu spät war.
    Der Friedhof lag am Skyline Drive, direkt hinter der Ortsgrenze von Dagus Mines. In der Highschool war das ein beliebtes Fleckchen für Liebespaare gewesen, der Blick angeblich ein Aphrodisiakum (ob das stimmte, würde sie nie erfahren). Während sie den Hügel hinauffuhr, breitete sich das in der Sonne glitzernde Kersey in Kleinformat vor ihr aus: Die Main Street und die Kuppel des Gerichtsgebäudes, im Westen das Dach der neuen Schule und der riesige Parkplatz, in den dahinterliegenden Straßenzügen überall schäbige Swimmingpools. Dort unten lag ihr Elternhaus, unter den schattenspendenden Bäumen in der Taylor Street, und als sie sich dem Friedhofstor näherte, verspürte sie plötzlich das Bedürfnis, sich erst das alte Haus anzusehen, verwarf die Idee aber genauso schnell, weil es ihr feige vorkam. Dazu hatte sie später noch Zeit. Das Wichtigste zuerst.
    Sie wurde von einem Schild empfangen mit der Aufschrift: HUNDE MÜSSEN STETS AN DER LEINE GEFÜHRT WERDEN. Hinter dem schiefen Eisenzaun war das gelbe Gras schlecht gemäht, überall ragten ganze Büschel hervor, und die Zufahrtsstraße war schmal und an den Rändern abgebröckelt. Da sie gerade Henrys Grab besucht hatte, verglich sie unwillkürlich die beiden Friedhöfe. Hier gab es keine bombastischen Säulen oder Säulengrüfte, keine Obelisken oder Engel, nur reihenweise bescheidene Grabsteine.
    Hier lagen keine berühmten Menschen begraben. Genau wie Kersey war der Friedhof anspruchslos und abgeschieden. Man konnte ihn nur finden, wenn man den Weg schon kannte.
    Emily parkte und schaltete den Motor aus, entriegelte die Heckklappe und stieg in der Erwartung aus, von Stille umgeben zu sein, bekam aber stattdessen das rhythmische Scheppern einer Ramme zu hören, das aus dem Ort heraufdrang. Zwischen den Schlägen rasselte ein Motor - zwei-, dreimal, um Dampf zu erzeugen -, dann krachte der Hammer wieder auf den Boden. Vermutlich war das gut: Es wurde gebaut. Ihr Vater würde sich freuen.
    So froh sie über die Ablenkung auch war, das Unvermeidliche ließ sich nicht länger aufschieben. Sie musste keine kostbaren Marmorstufen steigen. Der Friedhof erhob nicht den Anspruch, das Paradies oder ein königlicher Park zu sein, es war nur sanft abfallendes Weideland mit einer schönen Aussicht. Dachte man sich die Gräber weg, konnte man sich dort gut eine Viehherde vorstellen.
    Stattdessen befanden sich ihre Eltern hier, wie der Farmer, der in dem alten Witz bei Regen auf einem Feld steht. Wie bei Henry würden ihre Grabsteine Emily immer fremd bleiben, als läge ein Fehler vor, den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher