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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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der sie in ein paar Tagen aufbrechen würde. Von Spaces Corners bis Distant kannte sie die einsamen Häuser, die als Windschutz dienenden Bäume und die Maisfelder, die staubigen Wege, die in die Hügel abzweigten. Die wenigen Veränderungen, die ihr in New Bethlehem auffielen, waren sehr ausgeprägt - ein riesiger Anbau an der Highschool und direkt dahinter eine scheußliche Einkaufsmeile mit einem Wal-Mart und einer ausufernden Tankstelle. Die Bahngleise, an denen sie immer langsam fahren mussten, um die Stoßdämpfer des Wagens zu schonen, waren asphaltiert, und zwischen den Schwellen spross Unkraut, doch das Shannon Dell außerhalb des Ortes schien offen zu sein, die riesige Eistüte auf dem Dach frisch gestrichen. Die alten, abgerundeten Zapfsäulen neben der Metzgerei, die puppenhausgroße Kirche auf einem Pfahl an der Abzweigung zur echten Kirche - Emily genoss jede Wiederentdeckung, als wären diese Kostbarkeiten nur für sie aufbewahrt worden. Es war wie ein Wunder. Sie war ihr ganzes Leben diese Straße entlanggefahren, auf der Flucht oder bei der Rückkehr, und jedes Mal war die Fahrt von Schuld belastet gewesen. Da war es bloß natürlich, dass die Landschaft den Rest eines schlechten Gewissens für sie bereithielt, doch statt von jenen alten Gespenstern verfolgt zu werden, hatte sie das Gefühl, willkommen zu sein, als hätte sich in den dazwischenliegenden Jahren in ihrem Innern unmerklich ein Wandel vollzogen.
    «Tut mir leid, dass du nicht gern hierher zurückkommst», hatte ihre Mutter oft gesagt, um ihre belanglosen Streitereien zu beenden. Wie sollte Emily es erklären: Sie hatte weder ihre Mutter noch Kersey verleugnet, sondern ihr früheres Ich, das sonderbare, undankbare Mädchen, das bestrebt war, in allem die Beste zu sein, und Wutanfälle bekam, wenn es ihr nicht gelang. Von dem Moment an, als sie ihr Elternhaus verließ, hatte Emily versucht, sich von jenem Kind zu distanzieren, und sich hinter ihren Privilegien und ihrer gelassenen Kultiviertheit versteckt, was sich dort, wo sie jeder als Lehrers Liebling und Heulsuse kannte, nicht aufrechterhalten ließ. Vielleicht hatte Emily sich selbst endlich verziehen. Oder vielleicht hatte sie so lange gelebt, dass sie an alle, die ihr nahestanden, mit hilfloser Zärtlichkeit dachte und eingesehen hatte, dass das Leben schwer war und die Menschen ihr Bestes taten. Mit Sicherheit galt das für ihre Mutter. War es eine Sünde, dieses Mitleid auch sich selbst zu gewähren?
    Sie stellte sich die nicht so schmeichelhafte Frage, ob ihre gute Laune etwas damit zu tun haben könnte, dass sie diese Fahrt vielleicht zum letzten Mal machte - als könnte sie sich ein für alle Mal von ihren Zweifeln befreien. Der Gedanke beunruhigte sie, und sie räusperte sich und konzentrierte sich wieder auf die Straße.
    Bei Brookville, wo sich die 28 und die 1-80 trafen, tastete sie sich die stark befahrene, von Fernfahrerlokalen und Fast-Food-Restaurants gesäumte Ausfallstraße entlang, voller Angst, sie könnte ihre Abzweigung verpassen. An die Interstate - ein Eindringling aus der Zukunft - würde sie sich nie gewöhnen. Als sie in den sechziger Jahren gebaut worden war, hatte die Handelskammer erwartet, sie würde einen Aufschwung auslösen und mit Verspätung Industrie nach Kersey bringen. Es wäre bloß noch eine in Nord-Süd-Richtung verlaufende Interstate nötig gewesen, an die, wie ihr Vater gern gesagt hatte, außer der Handelskammer niemand geglaubt habe. «Wenn das Wörtchen wenn nicht war», sagte er immer, «war mein Vater Millionär.» eit dem Bau der 1-80 war Kersey, wie alle Kleinstädte in der Umgebung, nur noch kleiner geworden. Henry hatte die vielen Tankstellen rings um die Autobahnauffahrt die letzte Bastion der Zivilisation genannt. «Alle mal winken», hatte er immer zu den Kindern gesagt, ein Scherz, für den sie kein Verständnis aufbrachte, weil sie sich davor fürchtete, in ihrem alten Zimmer zu schlafen.
    Sie fuhr langsamer, um die grünen Schilder zu lesen. «Osten», sagte sie noch mal zur Kontrolle und bog in die Auffahrt.
    Oben musste sie sich einordnen, konnte aber keine Lücke entdecken und wartete, hielt an, während mehrere Sattelschlepper Stoßstange an Stoßstange vorbeibrausten und ihr Auto zum Schaukeln brachten. Ein großer Geländewagen rollte hinter ihr heran, und obwohl sie sofort losfuhr, als sie eine Lücke sah, donnerte der andere Fahrer, noch bevor sie richtig auf ihrer Spur war, in weitem Bogen an ihr vorbei, als würde sie
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