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Bei Tag und bei Nacht

Bei Tag und bei Nacht

Titel: Bei Tag und bei Nacht
Autoren: Nora Roberts
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1. K APITEL
    Gennie wusste sofort, dass sie endlich gefunden hatte, was sie suchte, als sie die ersten schindelgedeckten Häuser von Windy Point erblickte.
    Dieser Ort entsprach ganz ihrer Vorstellung von einem urwüchsigen, verträumten Fischerdorf an der Küste von Maine. Andere Gegenden, durch die sie gefahren war, mochten reizvoller, malerischer und vollkommener sein und aufs Haar den bunten Ansichtskarten gleichen, aber vielleicht hatte gerade ihre Perfektion Gennie gestört.
    Der Wunsch, ihr Talent auf einem neuen Gebiet zu prüfen, war die treibende Kraft gewesen, sich zu einem Arbeitsurlaub zu entschließen. Gennies bisherige Bilder waren geprägt von Fantasie und Mystifikation. Doch jetzt sollte die Vorstellungskraft der Realität weichen, ohne Rücksicht darauf, wie sich diese darstellte. Im Kofferraum ihres Wagens stapelten sich schon Skizzen von schroffen Klippen und bewegter See, doch Gennie spürte noch immer das nagende Gefühl der Unzufriedenheit in sich.
    Windy Point schien die Antwort auf alle Fragen zu sein. Statt schattenspendender Laubbäume sah man verkümmerte Kiefern und Fichten, knorrig und verwittert. Rechts und links von der mit Schlaglöchern übersäten Straße standen einzelne Häuser, die durch die Sonne und den salzigen Wind alt und verblasst wirkten. An den Fenstern und Türen splitterte die Farbe ab, doch das alles machte keinen ärmlichen oder vernachlässigten Eindruck, sondern schien zäh und widerstandsfähig.
    Gennie erkannte die zweckmäßige Schönheit. Es gab keine unrationellen Gebäude oder Schnörkel. Jedes Haus hatte seinen Sinn: ein Kurzwarengeschäft, die Poststelle und die Apotheke. Der Grundriss der Wohnbungalows war einfach und praktisch. Überall umgab ein Garten die weit herabreichenden Schindeldächer. Ihr simples Grau stand in fröhlichem Kontrast zu der bunten Blumenpracht. Der hintere Teil der Gärten bestand aus sehr gepflegten Gemüsebeeten. Die Petunien durften vielleicht ein wenig wild durcheinanderwachsen, doch zwischen den Zwiebeln und Karotten gab es kein einziges Unkrautpflänzchen.
    Durch das offene Wagenfenster drang der typische Geruch des Dorfes herein. Es roch ganz eindeutig nach Fisch.
    Gennie fuhr bis zum Ende der Siedlung, denn sie wollte einen kompletten Gesamteindruck bekommen. Erst beim Kirchhof hielt sie an. Hier wehte hohes Gras sanft zwischen mächtigen Granitgrabsteinen. Als sie den Wagen wendete, fand sie die alte, holprige Straße erstaunlich geräumig. Man trat hier seinem Nachbarn nicht ohne Weiteres auf die Füße, es sei denn, mit voller Absicht.
    Höchst zufrieden parkte Gennie ihren Wagen vor dem Kurzwarenladen. Es war zu erwarten, dass sich hier der Mittelpunkt von Windy Points Mitteilungs- und Nachrichtenwesen befand.
    In einem alten, hölzernen Schaukelstuhl saß ein Mann. Natürlich war ihm Gennies Fahrt durch den Ort und wieder hierher zurück keinesfalls entgangen. Aber er tat, als interessierte sie ihn nicht. Ohne die gleichmäßigen Schwingbewegungen zu unterbrechen, reparierte er geschickt einen defekten Hummerfangkorb. Er wandte sein von Sonne und Wind gebräuntes Gesicht keine Sekunde von der Arbeit in den rauen, kräftigen Händen ab.
    Gennie nahm sich fest vor, ihn genauso zu zeichnen, wie er jetzt vor ihr saß. Sie stieg aus dem Wagen und klemmte ihre Handtasche unter den Arm. Dann trat sie auf den Mann zu.
    »Hallo!«
    Der alte Mann nickte nur, ohne sich stören zu lassen. »Brauchen Sie Hilfe?«
    »Ja.« Gennie lächelte. Seine bedächtige Art zu sprechen gefiel ihr. »Vielleicht können Sie mir sagen, wo ich ein Zimmer oder ein Häuschen für ein paar Wochen mieten kann.«
    Der Ladenbesitzer schaukelte weiter, aber jetzt betrachtete er Gennie prüfend mit schlauen, leicht trüben Augen. Sie kommt aus der Stadt, vermutete er etwas geringschätzig. Wahrscheinlich aus dem Süden. Alles, was weiter entfernt war als Boston, fiel unter diesen Sammelbegriff. Sie sah sauber und hübsch aus, obwohl ihr dunkler Teint mit den hellen Augen fast fremdländisch wirkte. Aber das gehörte wohl dazu, wenn eine aus dem Süden stammte.
    Gennie störte ihn nicht, während er nachdachte. Sie strich ihr langes schwarzes Haar zurück und atmete tief die würzige Seeluft ein. Sie hatte in den vergangenen Wochen gelernt, dass die Leute hier in New England zwar im Allgemeinen recht freundlich und großzügig waren, aber alles seine Zeit brauchte.
    Wie eine Touristin wirkt sie nicht, dachte er, sie gleicht eher den Märchenwesen in den
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