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Elsa ungeheuer (German Edition)

Elsa ungeheuer (German Edition)

Titel: Elsa ungeheuer (German Edition)
Autoren: Astrid Rosenfeld
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heraus.
    Das ganze Haus roch nach Pisse. Frau Kratzler kochte Nierchen, die Leibspeise meines Vaters, den wir am Abend zurückerwarteten. Der Gestank trieb mich sofort wieder nach draußen, und ich machte mich zum See auf.
    Lorenz und ich hatten unsere eigene, geheime Badestelle, abseits der ausgewiesenen Liegewiesen. Eine kleine Lichtung inmitten eines Fichtenhains. Um ins Wasser zu gelangen, musste man sich einen Weg durch das wuchernde Schilf bahnen. Lorenz’ Handtuch und seine Anziehsachen lagen auf dem Sonnenfleck zwischen den Bäumen. Ich lief zum Ufer, stellte mich auf Zehenspitzen, nur so konnte ich den See überblicken. Ich entdeckte ihn sofort. Von einer plötzlichen Sehnsucht übermannt, schrie ich seinen Namen. Vielleicht muss man Menschen manchmal aus der Ferne betrachten, um zu wissen, wie sehr man sie liebt.
    Als wir nebeneinander auf seinem Handtuch lagen, erzählte ich ihm von Elsa. Lückenhaft. Weder ›Fetti‹ noch die 160   Mark fanden Einlass in meinen Bericht. Ich wollte, dass mein Bruder Elsa mochte und Elsa meinen Bruder. Sie durften nicht zu oft in verschiedene Richtungen gehen, denn wem von beiden sollte ich dann folgen?
    Der Tisch im Wohnzimmer, zu dem nur die Familie und nicht die Feriengäste Zutritt hatten, war gedeckt.
    Unser Vater hätte schon vor zwei Stunden zu Hause sein sollen. Das Murmeltier, die Kratzlerin, Lorenz und ich saßen schweigend vor den unbenutzten Tellern. Die Stille und der Gestank der Nierchen, die in der Küche ebenso wie wir auf Randolph Brauer warteten, drückten auf die Atemwege.
    »Nicht, dass ihm etwas passiert ist. Herzjesulein im Himmel. Die armen Kinder.«
    »Frau Kratzler, bitte! Was soll ihm denn passiert sein? Der Zug wird Verspätung haben.« Sein Tonfall ließ keine Widerworte zu. Doch seit Hannas Sprung wussten wir alle, wie schnell jemandem etwas passieren konnte.
    Das Telefon erlöste uns. »Zug verpasst«, sagte das Murmeltier, als er aufgelegt hatte. »Er wird erst sehr spät hier sein. Also Frau Kratzler, wie wäre es mit einer Runde Nieren?«
    Meinem Vater zuliebe hätte ich seine Leibspeise sogar mit einem Lächeln verzehrt. Aber ohne ihn am Tisch ergab es überhaupt keinen Sinn, die widerlichen Fleischbröckchen in mich hineinzustopfen. Lorenz dachte nicht anders. Wir jammerten so lange, bis unsere Haushälterin sich erbarmte. »Das arme Herzjesulein, was hätte es gegeben für eine letzte warme Mahlzeit«, seufzte sie, während mein Bruder und ich zufrieden Marmeladenbrote aßen.
    »Ach Frau Kratzler, so einen Unfug habe ich lange nicht mehr gehört. Niemanden, der am Kreuz hängt, gelüstet es nach Innereien. Ein kühles Bier, eine kubanische Zigarre, eine Fellatio, das sind letzte Wünsche, aber sicher nicht ein Teller Nierchen.«
    »Herr Murmelstein, da sprechen Sie wohl für sich, aber ganz bestimmt nicht für den Sohn Gottes.«
    »Er war auch nur ein Mann, meine Liebe.«
    Eigentlich wollten wir wach bleiben, um unseren Vater willkommen zu heißen, aber nach der Gutenachtgeschichte – Giovanna, Studentin aus Ohhh-Florenz, blankrasiert wie eine Muschel – schliefen Lorenz und ich ein.
    Um drei Uhr nachts stieß Randolph die Zimmertür auf, wankte über die Schwelle und knipste das Licht an. Er sah verstört aus, die Sanftmut seiner Züge hatte Risse bekommen. Er war Fast-Hotelier und Saisonarbeiter, aber mehr als alles andere war Randolph Brauer Hannas Mann.
    Er kniete sich zwischen unsere Betten, nahm unsere Hände und küsste sie. Aus seinem Mund, aus seinen Poren strömte der Geruch von Alkohol. Die Augen waren geschwollen – zu viele Tränen, zu wenig Schlaf.
    Ich konnte seinen wirren Sätzen kaum folgen. Von Hannas Cousin Jaap war die Rede, einem Gärtner. Eine alte Frau, um deren Rasen sich Jaap kümmerte, und ein deutsches Ehepaar tauchten in dem zusammenhanglosen Bericht meines Vaters auf. Damals wusste ich nicht, dass es sich um die Kunstsammlerin Irina Graham und die Mirbergs handelte. Damals ahnte ich nicht, dass diese drei Menschen Lorenz’ und mein Leben prägen würden.
    Immer wieder riss Randolphs niederländische Erzählung ab. »Hanna«, sagte er. »Hanna.« Als ob er sie zurückholen könnte, wenn er ihren Namen nur oft genug aussprach.
    Auch Lorenz und ich vermissten unsere Mutter, aber nicht mit dieser Verzweiflung. Zwar gaben wir der verschwundenen grünen Mütze und indirekt der Kratzlerin die Schuld für ihren Sprung, doch eigentlich hatte Hanna uns zeitlebens auf ihren Abgang vorbereitet.
    »Lorenz, du wirst
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