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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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D as Klingeln bohrte sich wie eine glühende Nadel in sein Bewusstsein.
    Im Traum war er an einer sonnenbeschienenen Mauer entlanggelaufen. Es war eine strahlend weiße Wand, die weder Anfang noch Ende hatte, und er folgte seinem Schatten. Die Mauer war wie ein eigenes Universum, glatt, blendend, teilnahmslos …
    Wieder klingelte es.
    Er öffnete die Augen und warf einen Blick auf die Leuchtziffern des Weckers neben sich. Zwei Minuten nach vier. Mühsam stützte er sich auf einen Ellbogen und tastete nach dem Telefonhörer, griff aber ins Leere. Erst in diesem Moment fiel ihm ein, dass er sich im Ruheraum befand. Er suchte die Taschen seines Kittels ab, bis er das Handy fand. Die Nummer auf dem Display war ihm nicht bekannt. Er nahm das Gespräch an, ohne sich zu melden.
    »Doktor Freire?«
    Er antwortete nicht.
    »Sie sind doch Doktor Mathias Freire, Psychiater im Bereitschaftsdienst, oder?«
    Die Stimme schien von ganz weit her zu kommen. Immer noch war der Traum in seinem Kopf. Die Mauer, das weiße Licht, der Schatten …
    »Das ist richtig«, antwortete er schließlich.
    »Ich bin Doktor Fillon und habe heute Nacht Notdienst im Viertel Saint-Jean-Belcier.«
    »Wieso rufen Sie mich unter dieser Nummer an?«
    »Weil es die ist, die man mir gegeben hat. Störe ich gerade?«
    Langsam gewöhnten sich Freires Augen an die Dunkelheit. Er erkannte die Leuchtplatte für Röntgenbilder, den Schreibtisch aus Metall und den doppelt verschlossenen Medikamentenschrank. Der Ruheraum war einfach nur sein Sprechzimmer. Er hatte das Licht gelöscht und auf dem Untersuchungstisch geschlafen.
    »Was ist los?«, grunzte er und richtete sich auf.
    »Ein merkwürdiger Vorfall am Bahnhof Saint-Jean. Gegen Mitternacht haben Wachleute einen Mann aufgefunden. Einen Penner, der sich in einem stillgelegten Bahnwärterhäuschen zwischen den Gleisen versteckt hatte.«
    Die Stimme des Arztes klang angespannt. Freires Blick streifte den Wecker erneut. Fünf nach vier.
    »Sie haben ihn zur Sanitätsstation gebracht und die nächstgelegene Polizeiwache kontaktiert. Die Bullen haben ihn mitgenommen und mich angerufen. Ich habe ihn auf der Wache untersucht.«
    »Ist er verletzt?«
    »Das nicht, aber er hat das Gedächtnis verloren. Und zwar vollständig. Ziemlich beeindruckend!«
    Freire gähnte.
    »Simuliert er vielleicht?«
    »Sie sind der Spezialist. Aber ich glaube es eher nicht. Er scheint irgendwie ganz weit weg zu sein. Oder – wie soll ich sagen? – er schwimmt sozusagen im Nichts.«
    »Ruft die Polizei auch noch bei mir an?«
    »Nein, der Patient wird Ihnen gerade in einem Streifenwagen überstellt.«
    »Na, herzlichen Dank«, grummelte Freire ironisch.
    »Ich meine es ernst. Sie können ihm sicher helfen, da bin ich ganz sicher.«
    »Haben Sie einen Untersuchungsbericht erstellt?«
    »Der Patient bringt ihn mit. Viel Glück.«
    Eilig legte der Arzt auf. Mathias Freire blieb reglos in der Dunkelheit stehen. Das Freizeichen bohrte sich in sein Trommelfell. Diese Nacht meinte es wirklich nicht gut mit ihm.
    Schon gegen neun Uhr abends hatte der Zirkus angefangen. Auf der Station der zwangseingewiesenen Patienten hatte ein Neuzugang zunächst seinen Darm mitten ins Zimmer entleert, dann seine Exkremente verzehrt und dem herbeigeeilten Pfleger das Handgelenk gebrochen. Eine halbe Stunde später hatte sich eine Schizophrene auf einer anderen Station mit einem Stück Linoleum die Pulsadern durchgeschnitten. Freire kümmerte sich um die ersten Hilfsmaßnahmen und überstellte sie anschließend in die Universitätsklinik Pellegrin.
    Gegen Mitternacht konnte er sich endlich hinlegen. Aber nur kurz. Eine Stunde später irrte ein Patient splitterfasernackt mit einer Plastiktrompete durch das Klinikgelände. Erst nach drei Spritzen gab er einigermaßen Ruhe. Anschließend mussten andere Patienten beschwichtigt werden, die er mit seinem Lärm geweckt hatte. Gleichzeitig bekam einer der Jungs auf der Station für Drogenabhängige einen epileptischen Anfall. Bis Freire bei ihm war, hatte der Kerl sich schon die Zunge durchgebissen, und das Blut sprudelte nur so aus seinem Mund. Man brauchte vier Männer, um seine Zuckungen unter Kontrolle zu bekommen. Im allgemeinen Durcheinander schaffte es der Mann trotz allem noch, sich Freires Handy zu schnappen. Der Psychiater musste warten, bis die Medikamente wirkten, ehe er die Finger des Kranken auseinanderbiegen und sein blutverschmiertes Telefon wieder an sich nehmen konnte.
    Erst um halb vier fand er Zeit,
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