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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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Realität bemüht er sich, eine seltsame Synthese aus dem logischen Positivismus des Wiener Kreises und Comtes religiösem Positivismus herzustellen, ohne jedoch hier und dort auf lyrische Anwandlungen zu verzichten, wie diese häufig zitierte Passage bezeugt: »Es gibt keine ewige Stille der unendlichen Räume, denn in Wirklichkeit gibt es weder Stille, noch Raum, noch Leere. Die Welt, die wir kennen, die Welt, die wir schaffen, die menschliche Welt ist rund, glatt, homogen und warm wie eine Frauenbrust.« Er hat es auf jeden Fall verstanden, einer immer breiteren Öffentlichkeit den Gedanken zu vermitteln, daß die Menschheit in dem Stadium, in dem sie angelangt war, die gesamte Entwicklung der Welt - und insbesondere ihre eigene biologische Entwicklung - steuern konnte und mußte. Er erhielt in diesem Kampf die wertvolle Unterstützung einer Anzahl von Neukantianern, die den allgemeinen Rückgang des von Nietzsche inspirierten Gedankenguts genutzt hatten, um diverse Schlüsselpositionen im intellektuellen Bereich, in den Universitäten und im Verlagswesen zu besetzen.
    Nach allgemeiner Auffassung bestand jedoch Hubczejaks Geniestreich darin, daß er es auf Grund einer unglaublich genauen Einschätzung der Zielsetzungen verstanden hat, die am- bivalente, verworrene Ideologie, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts unter dem Namen New Age aufgetaucht war, zugunsten seiner eigenen Thesen umzupolen. Als einer der ersten unter seinen Zeitgenossen hatte er begriffen, daß das New Age über die Masse veralteter, widersprüchlicher und lächerlich abergläubischer Vorstellungen hinaus einem echten Schmerz entsprach, der auf einen psychologischen, ontologischen und sozialen Zersetzungsprozeß zurückging. Über die abstoßende Mischung aus rückwärtsgewandter Ökologie, der Vorliebe für traditionelle Denkweisen und das »Heilige« hinaus, die das New Age der Hippie-Bewegung und dem Esalener Gedankengut verdankte, drückte dieses Phänomen den ernstzunehmenden Willen aus, einen Bruch mit dem 20. Jahrhundert und seiner Unmoral, seinem Individualismus und seinem libertären, antisozialen Charakter zu vollziehen; dessen angstvolles Bewußtsein bezeugte, daß keine Gesellschaft ohne die kohäsive Funktion einer Religion überleben kann; es stellte in Wirklichkeit eine dringende Aufforderung zu einem Paradigmenwechsel dar.
        Stärker als jeder andere von dem Bewußtsein erfüllt, daß Kompromisse manchmal unumgänglich sind, hat Hubczejak nicht gezögert, innerhalb der »Bewegung für das menschliche Potential«, die er gegen Ende des Jahres 2011 gründete, manche typische New-Age-Themen zu übernehmen, vom »Aufbau des Gaia-Cortex« bis hin zu dem berühmten Vergleich »10 Milliarden Individuen auf der Erdoberfläche - 10 Milliarden Neuronen im menschlichen Gehirn«, vom Aufruf zur Bildung einer auf einem »Neuen Bund« basierenden Weltregierung bis hin zu dem Spruch, der aus der Werbung stammen könnte: »DIE WELT VON MORGEN IST WEIBLICH«. Er ging dabei so geschickt vor, daß die Kommentatoren zumeist begeistert waren; er vermied sorgfältig jedes irrationale, sektiererische Abgleiten und verstand es dagegen, sich die Unterstützung einflußreicher Wissenschaftler zu sichern.

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        Ein gewisser Zynismus, der bei der Erforschung der menschlichen Geschichte weit verbreitet ist, neigt dazu, die »Geschicklichkeit« als einen grundlegenden Faktor des Erfolgs hinzustellen, dabei ist sie als solche, wenn sie nicht von einer tiefen Überzeugung geleitet wird, unfähig, einen wirklich entscheidenden Wandel hervorzurufen. Alle, die die Gelegenheit gehabt haben, Hubczejak kennenzulernen oder ihn als Gesprächspartner in einer Debatte zu erleben, haben übereinstimmend berichtet, daß seine Überzeugungskraft, sein Charme und sein außerordentliches Charisma auf seine unkomplizierte Art und seine tiefe persönliche Überzeugung zurückgingen. Er sagte bei allen Gelegenheiten ziemlich genau das, was er dachte, und diese unkomplizierte Art hatte eine verheerende Wirkung auf seine Gegner, die sich in den Widersprüchen und begrenzten Vorstellungen veralteter Ideologien verstrickten. Einer der ersten Einwände, die gegen sein Vorhaben erhoben wurden, bezog sich auf die Abschaffung der sexuellen Unterschiede, die für das menschliche Selbstverständnis so entscheidend waren. Dem hielt Hubczejak entgegen, daß es nicht darum ginge, das Menschengeschlecht in all seinen Merkmalen zu perpetuieren, sondern darum, eine neue,
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