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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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des Raums, des menschlichen Raums, nehmen wir unsere Messungen vor, durch diese Mes sungen schaffen wir den Raum, den Raum zwischen unseren In strumenten.
         Den unwissenden Menschen«, fä hrt Djerzinski fort, » versetzt die Vorstellung des Raums in panisches Entsetzen; er stellt sich ihn riesig, finster, und gähnend leer vor. Er stellt sich die Wesen als einfache, im Raum abgekapselte, zusammengekrümmte kugel förmige Gebilde vor, die von der ewigen Anwesenheit der drei Dimensionen erdrückt werden. Von der Vorstellung des Raums in panisches Entsetzen versetzt, krümmen sich die Menschen zusam men; ihnen ist kalt, sie haben Angst. Bestenfalls durchqueren sie den Raum, begr üß en sich traurig inmitten des Raums. Dabei ist dieser Raum in ihnen selbst, es handelt sich nur um etwas, das ihr eigener Geist geschaffen hat.
         In diesem Raum, vor dem die Menschen Angst haben«, schreibt Djerzinski weiter, » lernen sie zu leben und zu sterben; in ihrem geistigen Raum entstehen Trennung, Distanz und Leiden. Dazu l äßt si ch wenig sagen: Der Liebhaber hört den Ruf seiner Geliebten über Ozeane und Gebirge hinweg; über Gebirge und Ozeane hinweg hört die Mutter den Ruf ihres Kindes. Die Liebe verbindet, und sie verbindet für immer. Die gute Tat ist eine Bin dung, die böse Tat eine Lösung dieser Bindung. Trennung ist ein an derer Name für das Böse; sie ist auch ein anderer Name für die Lüge. Es gibt tatsächlich nur eine herrliche, riesige gegenseitige Verflechtung.«
        Hubczejak schreibt zu Recht, daß Djerzinskis größtes Verdienst nicht darin besteht, daß er den Begriff der individuellen Freiheit überwunden hat (denn dieser Begriff war bereits zu seiner Zeit weitgehend sinnentleert, und jeder gestand zumindest stillschweigend ein, daß er nicht mehr als Grundlage für irgendeinen menschlichen Fortschritt taugte), sondern daß es ihm gelungen ist, durch eine - wenn auch etwas gewagte - Interpretation der Postulate der Quantenmechanik die Bedingungen zur Möglichkeit der Liebe wiederherzustellen. In diesem Zusammenhang muß noch einmal das Bild Annabelles erwähnt werden: Ohne selbst die Liebe kennengelernt zu haben, hatte sich Djerzinski am Beispiel Annabelles eine Vorstellung davon machen können; er hatte ermessen können, daß die Liebe unter gewissen Bedingungen und auf noch unbekannte Art und Weise auftreten konnte. Diese Überzeugung diente ihm sehr wahrscheinlich während der letzten Monate, in denen er seine Theorie entwickelte - einen Zeitraum, über den wir nur sehr wenig wissen -, als Wegweiser.

    Den Aussagen der wenigen Personen zufolge, die im Laufe der letzten Wochen mit Djerzinski in Irland zusammengekommen waren, schien er eine gewisse Seelenruhe gefunden zu haben. Sein ängstliches, unruhiges Gesicht wirkte besänftigt. Er unternahm lange versonnene Spaziergänge auf der Sky Road, ohne bestimmtes Ziel, in Gesellschaft des Himmels. Die Straße nach Westen schlängelte sich an Hügeln entlang, die bald steil, bald sanft zur Küste hinabfielen. Das Meer glitzerte und warf flackerndes Licht auf die letzten Felseninseln. Die Wolken, die schnell am Horizont vorüberzogen, bildeten eine verschwommene leuchtende Masse von seltsam materieller Präsenz. Das Gesicht von leichtem feuchten Dunst umgeben, legte er lange Wege zurück, ohne große Anstrengung. Seine Forschungsarbeit war beendet, das wußte er. In dem Zimmer, das er in ein Büro verwandelt hatte und dessen Fenster auf die Halbinsel Errislan- nan hinausging, hatte er seine Aufzeichnungen - mehrere hundert Seiten über die unterschiedlichsten Themen - fein säuberlich geordnet. Das Ergebnis seiner wissenschaftlichen Arbeiten im eigentlichen Sinn umfaßte achtzig Schreibmaschinenseiten - er hatte es nicht für nötig erachtet, die Berechnungen im einzelnen anzuführen.
        Am 27. März 2009 ging er am Spätnachmittag zur Hauptpost in Galway. Er sandte ein Exemplar seiner Arbeiten an die Académie des sciences in Paris und ein weiteres an die Zeitschrift Nature in England. Über das, was anschließend geschah, ist nichts Genaues bekannt. Die Tatsache, daß sein Wagen in unmittelbarer Nähe von Aughrus Point gefunden wurde, ließ natürlich an Selbstmord denken - insbesondere, da sich weder Walcott noch irgendeiner der Techniker des Instituts über dieses Ende wirklich überrascht zeigten. »Er hatte etwas furchtbar Trauriges an sich«,sollte Walcott erklären, »Ich glaube, er war der traurigste Mensch, den ich je in
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