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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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Obwohl die Mathematiker die Bedeutung der vorgeschlagenen Mutmaßungen durchaus anerkannten, fiel es ihnen nicht schwer, die mangelnde formale Strenge der Vorschläge sowie den leicht anachronistischen Charakter des Ansatzes hervorzuheben. Tatsächlich hatte Djerzinski zu jener Zeit, wie Hubczejak einräumt, keinen Zugang zu den jüngsten mathematischen Veröffentlichungen, und man hat sogar den Eindruck, daß er sich nicht sonderlich dafür interessierte. Über seine Tätigkeit von 2004 bis 2007 besitzt man allerdings nur wenige Zeugnisse. Er besuchte regelmäßig das Institut in Galway, aber seine Beziehung zu den Wissenschaftlern, die die Versuchsreihen durchführten, war rein technischer und funktionaler Art. Er hatte sich ein paar elementare Cray-Kenntnisse angeeignet, so daß er selten auf die Hilfe der Programmierer angewiesen war. Nur Walcott schien eine etwas persönlichere Beziehung zu ihm aufrechterhalten zu haben. Er wohnte ebenfalls in der Nähe von Clifden und stattete ihm manchmal nachmittags einen Besuch ab. Seinem Zeugnis zufolge berief sich Djerzinski oft auf Auguste Comte, insbesondere auf die Briefe an Clotilde de Vaux und auf die Synthèse subjective, das letzte unvollendete Werk des Philosophen. Auch auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Methode konnte man Comte als den wahren Begründer des Positivismus betrachten. Keine Metaphysik, keine zu jener Zeit vorstellbare Ontologie hatte vor seinen Augen Gnade gefunden. Es ist sogar wahrscheinlich, wie Dierzinski hervorhob, daß Comte, wenn er in das intellektuelle Umfeld versetzt worden wäre, in dem sich Niels Bohr von 1924 bis 1927 befand, an seiner kompromißlosen positivistischen Einstellung festgehalten und sich der Kopenhagener Deutung angeschlossen hätte. Jedoch das Beharren des französischen Philosophen auf dem realen Charakter der sozialen Zustände im Vergleich zum fiktiven Charakter der individuellen Existenz, sein immer wieder neu bekundetes Interesse für historische Prozesse und Bewußtseinsströmungen und vor allem sein übersteigerter Hang zur Sentimentalität deuten darauf hin, daß die später angestrebte Neuorientierung der Ontologie, die seit den Arbeiten von Zurek, Zeh und Hardcastle an Bedeutung gewonnen hatte, bei ihm vielleicht nicht auf Ablehnung gestoßen wäre: das Ersetzen einer objektbezogenen Ontologie durch eine zustandsbezogene Ontologie. Denn nur eine zustandsbezogene Ontologie war in der Lage, die praktische Möglichkeit menschlicher Beziehungen wiederherzustellen. In einer zustandsbezogenen Ontologie waren die einzelnen Teil- chen nicht zu unterscheiden, und man mußte sich darauf beschränken, sie auf dem Weg über das beobachtbare Phänomen der Anzahl zu bestimmen. Die einzigen Gebilde, die in einer solchen Ontologie neu bestimmt und benannt werden konnten, waren die Wellenfunktionen und auf dem Weg darüber die Zustandsvektoren - daher die Möglichkeit, analog dazu, der Brüderlichkeit, der Sympathie und der Liebe einen neuen Sinn zu verleihen.

    Sie gingen die Straße nach Ballyconneely entlang; das Meer glitzerte zu ihren Füßen. In der Ferne ging die Sonne über dem Atlantik unter. Immer häufiger hatte Walcott den Eindruck, daß Djerzinskis Gedankengänge sich auf unsicheren, ja mystischen Wegen verirrten. Er selbst blieb ein Anhänger des radikalen Instrumentalismus; er stand in der Tradition des angelsächsischen Pragmatismus und war auch von den Arbeiten des Wiener Kreises beeinflußt worden, und daher betrachtete er Auguste Comtes Werk, das in seinen Augen noch zu romantisch war, mit einer gewissen Skepsis. Der Positivismus konnte, wie er hervorhob, im Gegensatz zum Materialismus, der durch ihn ersetzt worden war, tatsächlich zum erstenmal einen neuen Humanismus begründen (denn der Materialismus war im Grunde mit dem Humanismus unvereinbar und sollte ihn schließlich zerstören). Dennoch hatte der Materialismus durchaus eine historische Bedeutung gehabt: Man mußte eine erste Barriere überwinden, nämlich Gott; die Menschen hatten sie überwunden und waren plötzlich in Bedrängnis geraten und von Zweifeln erfüllt. Aber inzwischen war eine zweite Barriere überwunden worden; und das war in Kopenhagen geschehen. Und seitdem brauchten sie Gott nicht mehr und auch nicht die Vorstellung einer unsichtbar vorhandenen Realität. »Es gibt menschliche Wahrnehmungen, menschliche Zeugnisse und menschliche Versuche«, sagte Walcott. »Es gibt die Vernunft, die diese Wahrnehmungen verbindet, und das Gefühl,
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