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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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meinem Leben kennengelernt habe, und dabei erscheint mir das Wort Traurigkeit noch ziemlich schwach: ich sollte besser sagen, daß irgend etwas in ihm zerstört, völlig vernichtet war. Ich habe immer den Eindruck gehabt, daß ihm das Leben eine Last war und daß ihn keinerlei Beziehung mit irgend etwas Lebendigem mehr verband. Ich glaube, er hat so lange durchgehalten, bis er mit seinen Arbeiten fertig war, und niemand unter uns kann sich vorstellen, welche Anstrengung ihn das gekostet hat.«
        Trotz alledem bleibt Djerzinskis Verschwinden ein Rätsel, und die Tatsache, daß seine Leiche nie gefunden worden ist, sollte einer hartnäckigen Legende Vorschub leisten, derzufolge er nach Asien, und zwar nach Tibet gereist sei, um seine Arbeiten mit gewissen Lehren der buddhistischen Tradition zu konfrontieren. Diese Hypothese wird heutzutage einhellig verworfen. Zum einen hat man keinen Hinweis für eine Flugreise mit Irland als Ausgangspunkt entdecken können; zum anderen hat man die Zeichnungen auf den letzten Seiten seines Notizbuchs, die man eine Zeitlang als Mandalas interpretiert hatte, schließlich als eine Kombination von keltischen Symbolen identifizieren können, die jenen ähneln, die im Book of Kells zu finden sind.

    Wir glauben heute, daß Michel Djerzinski in Irland gestorben ist, eben dort, wo er beschlossen hatte, seine letzten Lebensjahre zu verbringen. Wir glauben weiterhin, daß er, nachdem seine Arbeiten beendet waren, beschlossen hat, zu sterben, da ihn keinerlei menschliche Bande mehr zurückhielten. Zahlreiche Zeugnisse bestätigen seine Faszination für diesen äußersten Zipfel der westlichen Welt, der ständig in wechselhaftes, sanftes Licht getaucht ist, einen Ort, an dem er so gern Spaziergänge unternahm und an dem, wie er in einer seiner letzten Aufzeichnungen schrieb, »Himmel, Licht und Wasser verschmelzen«. Wir glauben heute, daß Michel Djerzinski ins Meer gegangen ist.

    Nachrede

        Wir kennen zahlreiche Einzelheiten bezüglich des Lebens, des Aussehens und des Charakters der Personen, die in dieser Erzählung erwähnt werden; dieses Buch muß aber dennoch als eine erfundene Geschichte betrachtet werden, als eine glaubhafte Rekonstruierung auf der Grundlage lückenhafter Erinnerungen, und nicht als Widerspiegelung einer eindeutigen, nachweisbaren Wahrheit. Auch wenn die Veröffentlichung der Clifden Notes - ei ne vielschichtige Mischung aus Erinnerungen, persönlichen Eindrücken und theoretischen Erörterungen, die Djerzinski in den Jahren 2000 bis 2009 zu Papier gebracht hat, während er gleichzeitig an seiner großen Theorie arbeitete - uns Aufschluß über zahlreiche Vorkommnisse in seinem Leben, über die Abzweigungen, Konfrontationen und Dramen gibt, die seine spezifische Sicht des Daseins bestimmt haben, bleibt noch vieles, sowohl was seine Biographie wie auch seine Persönlichkeit angeht, im dunkeln. Der folgende Bericht ist jedoch historisch belegt, und die Ereignisse, die die Veröffentlichung von Djerzinskis Arbeiten ausgelöst hat, sind so oft geschildert, kommentiert und analysiert worden, daß wir uns mit einer kurzen Zusammenfassung begnügen können.
        Der im Juni 2009 in einem Sonderdruck der Zeitschrift Nature erschienene Aufsatz Prolegomena zu einer vollkomme nen Replikation, der die achtzig Seiten wiedergibt, die Djerzinskis letzte Arbeiten zusammenfassend darstellen, sollte sofort eine heftige Schockwelle unter den Wissenschaftlern auslösen. Überall auf der Welt versuchten Dutzende von Molekularbiologen, die vorgeschlagenen Versuche zu wiederholen und die Einzelheiten der Berechnungen zu verifizieren. Nach wenigen Monaten gab es die ersten Ergebnisse, und anschließend wurde Woche für Woche eine Flut neuer Ergebnisse bekannt, die alle völlig übereinstimmend die Gültigkeit der Ausgangshypothese bestätigten. Ende 2009 gab es nicht mehr den geringsten Zweifel: Djerzinskis Ergebnisse waren zutreffend, man konnte sie als wissenschaftlich erwiesen ansehen. Die praktischen Konse- quenzen waren natürlich schwindelerregend: jeder genetische Code, wie kompliziert er auch sein mochte, konnte in einer strukturell stabilen Standardform neu geschrieben werden, die keinen Störungen oder Mutationen unterworfen war. Jede Zelle konnte folglich mit einer unendlichen Kapazität von aufeinanderfolgenden Replikationen ausgestattet werden. Jede Tierart, und sei sie noch so hoch entwickelt, konnte in eine verwandte Spezies verwandelt werden, die sich durch
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