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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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vernunftbegabte Spezies zu schaffen, und daß das Ende der Sexualität als Fortpflanzungsmodus in keiner Weise das Ende der sexuellen Lust bedeute - ganz im Gegenteil. Die kodierenden Sequenzen, die während der Einbryogenese die Bildung von Krause-Endkolben bedingten, waren in jüngster Zeit identifiziert worden; beim gegenwärtigen Entwicklungsstand des Menschen seien diese Endkolben nur spärlich auf der Oberfläche der Klitoris und der Eichel angesiedelt. Nichts spräche dagegen, sie in Zukunft über die gesamte Oberfläche der Haut zu verteilen und somit auf dem Gebiet der Sinnesfreuden geradezu unglaubliche, nie dagewesene erotische Empfindungen hervorzurufen.
        Andere kritische Äußerungen - vermutlich die schwerwiegendsten - konzentrierten sich darauf, daß innerhalb der neuen
        Spezies, die auf der Grundlage von Djerzinskis Arbeiten geschaffen würde, alle Individuen denselben genetischen Code besitzen würden; eines der grundlegenden Elemente der menschlichen Persönlichkeit würde folglich verschwinden. Dem hielt Hubczejak vehement entgegen, daß gerade diese genetische Individualität, auf die wir aufgrund eines tragischen Irrtums so lächerlich stolz waren, die Quelle fast all unserer Leiden sei. Der Befürchtung, daß die menschliche Persönlichkeit vom Verschwinden bedroht sei, hielt er das konkrete und einfach zu beobachtende Beispiel von eineiigen Zwillingen entgegen, die trotz einer in allen Einzelheiten identischen Erbmasse durch ihren individuellen Lebensweg völlig eigenständige Persönlichkeiten entwickeln, auch wenn sie durch eine rätselhafte Brüderlichkeit verbunden bleiben - eine Brüderlichkeit, die Hubczejak zufolge gerade das wichtigste Element für die Wiederherstellung einer ausgesöhnten Menschheit sei.
        Es besteht kein Zweifel an Hubczejaks Aufrichtigkeit, wenn er behauptete, daß er nur Djerzinskis Werk weiterführen wolle und er selbst nur ein einfacher Handlanger sei, dessen Ehrgeiz einzig und allein darin bestehe, die Gedanken seines Meisters in die Praxis umzusetzen. Ein Zeugnis dessen ist zum Beispiel sein Festhalten an jener seltsamen Idee, die auf Seite 342 der Clifden Notes zum Ausdruck kommt: Die Zahl der Individuen der neuen Spezies müsse stets eine Primzahl darstellen; man müsse also erst ein Individuum schaffen, dann zwei, dann drei, dann fünf... kurz, man müsse der Reihe der Primzahlen peinlich genau folgen. Das Ziel dieser Maßnahme bestand natürlich darin, eine Anzahl von Individuen zu schaffen, die nur durch sich selbst und durch Eins teilbar ist, um damit symbolisch auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die die Bildung separater Gruppierungen innerhalb jeder Gesellschaft bedeutet; aber es scheint, daß Hubczejak diese Bedingung zur Auflage gemacht hat, ohne deren Bedeutung auch nur irgendwie zu hinterfragen. Allgemeiner gesehen sollte seine streng positivistische Auslegung von Djer- zinskis Arbeiten dazu führen, daß er das Ausmaß der metaphysischen Wandlung, die eine so tiefgreifende biologische Mutation zwangsläufig begleitet, fortwährend unterschätzt hat - eine Mutation, die in der Geschichte der Menschheit einzigartig ist.
        Diese grobe Fehleinschätzung der philosophischen Implikationen des Vorhabens und selbst der Begriff der philosophischen Implikation ganz allgemein sollte jedoch in keiner Weise ihre Durchführung behindern oder verzögern. Daraus läßt sich ersehen, bis zu welchem Grad in sämtlichen westlichen Gesellschaften sowie in der relativ fortgeschrittenen Bewegung, die das New Age darstellte, die Vorstellung einer fundamentalen Wandlung unerläßlich geworden war, damit sich die Gesellschaft selbst überleben konnte - eine Wandlung, die auf glaubhafte Weise den Sinn für die Kollektivität, die Kontinuität und das Heilige wiederherstellen würde. Daraus läßt sich weiterhin ersehen, bis zu welchem Grad die philosophischen Fragen im Verständnis der Öffentlichkeit jeden konkreten Bezug verloren hatten. Das weltweite Gespött, dem die Arbeiten von Foucault, Lacan, Derrida und Deleuze über Nacht zum Opfer gefallen waren, nachdem man sie jahrzehntelang total überschätzt hatte, sollte zu diesem Zeitpunkt keinen Raum für eine neue Philosophie lassen, sondern im Gegenteil sämtliche Intellektuellen diskreditieren, die sich auf die »Humanwissenschaften« beriefen; der zunehmende Einfluß der Naturwissenschaftler in allen Bereichen des Denkens war von da an unvermeidlich geworden. Selbst das gelegentliche,
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