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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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widersprüchliche, schwankende Interesse, das die Anhänger des New Age manchmal für den einen oder anderen, aus »alten spirituellen Traditionen« stammenden Glauben zu verspüren vorgaben, bezeugte nur einen Zustand äußerster Bedrängnis, der an Schizophrenie grenzte. Wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft, und vielleicht noch stärker als diese, vertrauten sie in Wirklichkeit nur der Wissenschaft, da die Wissenschaft für sie das einzige, unwiderlegbare Wahrheitskriterium darstellte. Wie alle anderen Mitglieder der Gesell- schaft waren auch sie zutiefst davon überzeugt, daß die Lösung aller Probleme - einschließlich der psychologischen, soziologischen und gemeinhin menschlichen Probleme - nur technischer Art sein könne. Daher konnte Hubczejak ohne die Gefahr, auf starken Widerspruch zu stoßen, im Jahr 2013 seinen berühmten Slogan verkünden, der der eigentliche Auslöser für einen weltweiten Meinungsumschwung war: »DIE WANDLUNG FINDET NICHT IM GEIST STATT, SONDERN IN DEN GENEN.«

        2021 bewilligte die UNESCO die ersten Kredite; unter Hubczejaks Leitung machte sich ein Team von Forschern unverzüglich an die Arbeit. Streng genommen leistete er auf wissenschaftlichem Gebiet nicht viel; aber er sollte sich dennoch als ungeheuer wirksam erweisen, und zwar auf einem Gebiet, das man als »Public Relations« bezeichnen könnte. Es war überraschend, wie ungeheuer schnell die ersten Ergebnisse zu verzeichnen waren; erst viel später erfuhr man, daß zahlreiche Forscher, Anhänger oder Sympathisanten der »Bewegung für das menschliche Potential«, in ihren Labors in Australien, Brasilien, Kanada oder Japan in Wirklichkeit schon lange mit der Arbeit begonnen hatten, ohne die Genehmigung der UNESCO abzuwarten.
        Die Schaffung des ersten Wesens, des ersten Vertreters einer neuen, intelligenten Spezies, die der Mensch »Ihm zum Bilde, zum Bilde des Menschen« schuf, fand am 27. März 2029 statt, auf den Tag genau zwanzig Jahre nach Michel Djerzinskis Verschwinden. Dierzinski zu Ehren fand die Synthese in einem Labor des Instituts für Molekularbiologie in Palaiseau statt, obwohl dem Team kein französischer Wissenschaftler angehörte. Die Fernsehübertragung des Ereignisses hatte natürlich eine ungeheure Wirkung - eine Wirkung, die bei weitem jene übertraf, die knapp sechzig Jahre zuvor in einer Julinacht des Jahres 1969 die Direktübertragung der ersten Schritte des Menschen auf dem Mond gehabt hatte. Hubczejak leitete die Reportage mit einer kurzen Rede ein, in der er mit seiner üblichen schonungslosen Offenheit erklärte, daß sich die Menschheit rühmen dürfe, »die erste Spezies der bekannten Welt zu sein, die die Bedingungen geschaffen hat, sich selbst zu ersetzen«.

        Heute, gut fünfzig Jahre später, hat die Realität die prophetische Tragweite von Hubczejaks Worten über alle Maßen bestätigt - bis zu einem Punkt, den er vermutlich nicht geahnt hat. Es existieren noch einige Menschen der alten Rasse, insbesondere in den Regionen, die lange dem Einfluß traditioneller religiöser Doktrinen ausgesetzt waren. Ihre Fortpflanzungsquote verringert sich jedoch von Jahr zu Jahr, und ihr Aussterben scheint heute unabwendbar zu sein. Entgegen allen pessimistischen Voraussagen vollzieht sich dieses Aussterben bis auf vereinzelte gewalttätige Handlungen, deren Zahl immer mehr abnimmt, sehr friedlich. Es ist durchaus überraschend mitanzusehen, mit welcher Ruhe, welcher Resignation und vielleicht sogar insgeheimer Erleichterung die Menschen ihrem eigenen Verschwinden zugestimmt haben.

    Dadurch, daß wir das verwandtschaftliche Band, das uns an die Menschheit fesselte, zerrissen haben, leben wir. Dem Urteil der Menschen zufolge leben wir glücklich; allerdings haben wir es auch verstanden, die für sie unüberwindbaren Kräfte des Egoismus, der Grausamkeit und der Wut zu bezwingen; wir führen ohnehin ein anderes Leben. Die Wissenschaft und die Kunst sind weiterhin Bestandteil unserer Gesellschaft; aber die Suche nach dem Wahren und dem Schönen besitzt, da sie nicht mehr so stark durch den Stachel der individuellen Eitelkeit angespornt wird, einen weniger dringlichen Charakter. Auf die Menschen der ehemaligen Rasse wirkt unsere Welt wie ein Paradies. Es kommt im übrigen vor, daß wir uns selbst - wenn auch mit einer Spur von Humor - mit dem Namen »Götter« bezeichnen, der so viele Träume bei ihnen ausgelöst hat.
        Die Geschichte existiert; sie zwingt sich auf,
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