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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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das sie mit Leben erfüllt. All das entwickelt sich ohne jede Metaphysik oder Ontologie. Wir brauchen nicht mehr die Vorstellung, daß es einen Gott, die Natur oder die Realität gibt. Ein Konsens über das Resultat von Versuchen kann innerhalb der Gemeinschaft der Beobachter auf dem Weg über eine vernunftbedingte Intersubjektivität erreicht werden; die Versuche sind durch Theorien miteinander verbunden, die, so weit es geht, das Ökonomieprinzip erfüllen und zwangsläufig widerlegbar sein müssen. Es gibt eine wahrgenommene Welt, eine gefühlte Welt, eine menschliche Welt.«
        Seine Position war unangreifbar, das war Djerzinski klar: War das Bedürfnis nach einer Ontologie eine Kinderkrankheit des menschlichen Geists? Gegen Ende 2005 entdeckte er auf einer Reise nach Dublin das Book of Kells. Hubczejak ist davon überzeugt, daß die Entdeckung dieser mit Miniaturen von unglaublicher formaler Komplexität versehenen Handschrift, die vermutlich das Werk irischer Mönche aus dem 7. Jahrhundert unseres Zeitalters ist, einen entscheidenden Einfluß auf sein Denken ausgeübt hat und daß ihm die eingehende Betrachtung dieses Werks wohl schließlich erlaubt hat, durch eine Reihe von Intuitionen, die uns im nachhinein wie ein Wunder vorkommen, die in der Biologie anzutreffenden Schwierigkeiten der energetischen Stabilitätsberechnung innerhalb der Makromoleküle zu überwinden. Selbst wenn man nicht bereit ist, allen Behauptungen Hubczejaks beizupflichten, muß man einräumen, daß das Book of Kells im Lauf der Jahrhunderte bei den Kommentatoren schon immer Äußerungen von geradezu ekstatischer Bewunderung hervorgerufen hat. So kann etwa die Beschreibung dieses Buches von Giraldus Cambrensis aus dem Jahr 1185 angeführt werden:
         »Di eses Buch enthält die Konkordanz der vier Evangelien nach dem Text des heiligen Hieronymus und fast ebenso viele, mit herrlichen Farben verzierte Zeichnungen wie Seiten. Hier kann man das wunderbar gezeichnete Antlitz Seiner göttlichen Maje- stät bewundern; dort die mystischen Darstellungen der Evange listen, die bald sechs, bald vier bald zwei Flügel besitzen. Hier sieht man den Adler, dort den Stier, hier das Gesicht eines Menschen, dort das eines Löwen und beinah unzählige weitere Zeichnungen. Der flüchtige Betrachter möchte meinen, es seien nur Klecksereien und nicht sorgfältig ausgeführte Zeichnungen. Er sieht nichts Sub tiles, dabei ist alles subtil. Aber wenn man sich die Mühe macht, sie sehr aufmerksam zu betrachten und mit dem Auge in die Ge heimnisse der Kunst einzudringen, entdeckt man so viele feine und subtile vielschichtige Dinge, die dichtgedrängt, miteinander ver flochten und verknotet sind und zwar in so frischen, leuchtenden Farben, daß man ohne Umschweife erklären wird, daß all das nicht von Menschenhand geschaffen sein kann, sondern das Werk der Engel ist.«

    Man kann Hubczejak ebenfalls beipflichten, wenn er behauptet, daß jede neue Philosophie, selbst wenn sie in Form einer scheinbar rein logischen Axiomatik auftritt, in Wirklichkeit mit einer neuen Sichtweise der Welt verbunden ist. Dadurch daß Djerzinski der Menschheit die körperliche Unsterblichkeit geschenkt hat, hat er natürlich unseren Zeitbegriff grundlegend verändert; aber sein größtes Verdienst sieht Hubczejak darin, daß er die Grundlagen für eine neue Philosophie des Raums geschaffen hat. So wie das Weltbild, das den tibetanischen Buddhismus prägt, untrennbar mit einer eingehenden Betrachtung der unendlichen kreisförmigen Figuren der Mandalas verbunden ist, und so wie man sich eine getreue Vorstellung von Demokrits Denken machen kann, wenn man an einem Augustnachmittag auf einer griechischen Insel das gleißende Sonnenlicht auf den weißen Steinen beobachtet, kann man sich Djerzinskis Gedankenwelt nähern, wenn man sich in dieses unendliche Netz von Kreuzen und Spiralen vertieft, das die ornamentale Grundlage des Book of Kells b ildet, oder wenn man den wunderbaren Aufsatz Meditation über die Verflechtung liest, der unabhängig von den Clifiden Notes veröffentlicht worden und von diesem Buch inspiriert worden ist.
        » Die Formen der Natur«, schreibt Djerzinski, »sind menschliche Formen. In unserm Hirn tauchen Dreiecke, Verflechtungen und Verzweigungen auf. Wir erkennen sie wieder; wir achten sie; wir leben in ihrer Mitte. Inmitten unserer Schöpfungen, mensch licher Schöpfungen, die dem Menschen mitteilbar sind, entwik keln wir uns und sterben. Inmitten
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