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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Autoren: Aufbau
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O Matka Bronia, nimm mich mit zu den Spionen
    Meine erste bewusste Erinnerung ist die an eine Zimmerdecke. Vielleicht war ich oft krank, oder wer weiß. Geboren wurde ich vor
     Schreck: Mein Vater Stepan wurde wegen Kybernetik * verhaftet, und meine Mutter bekam mich zwei Monate zu früh.
    Ich lag gern auf dem Bett und ließ den Blick auf dem dreifachen Stuckfries unter der hohen Decke meines Zimmers umherwandern. Stundenlang konnte ich die phantastischen Schnörkel der seltsamen Blätter betrachten, in Gedanken in den gewundenen Freiräumen dazwischen umherlaufen wie in einem Labyrinth und mich bei einem Unwetter draußen unter dem größten Blatt verkriechen. Wenn es hell war, vor allem bei Sonnenschein, schwebte ich gern über die glatte Decke bis zur Mitte, zu der üppigen barocken Rosette, und dann über den alten Kronleuchter mit den drei Engeln, die jeder drei Leuchterarme mit Glühlampen hielten, müde hinunter auf mein Bett.
    Meine zweite Erinnerung ist meine Taufe und die Kirche auf dem Newski-Prospekt. Ich erinnere mich vage anmeine Empfindungen dabei. Das heißt, ich weiß nicht, was vorgeht, nehme aber alles begierig auf. Der Pater macht irgendetwas mit mir, Jungen in Weiß schwenken etwas Glänzendes aus Metall, das raucht und aussieht wie Weihnachtskugeln. Weiß, sehr viel Weiß – Kleidung, Blumen, Licht. Der Geruch des Rauchs ist neu und fern, und ich habe das Gefühl, dass alle es eilig haben, und das ist unnatürlich und beunruhigend. Ich, normalerweise ein stets freundlich lächelndes Kind, für meine Matka Bronia sogar verdächtig freundlich, ich lächle nicht.
    Und außerdem erinnere ich mich an die Stufen zur Kirche. Die erste Prüfung in meinem Leben (die Verhaftung meines Vaters habe ich ja nicht miterlebt): Aus irgendeinem Grund musste ich diese Stufen allein bewältigen, mit gewaltiger Anstrengung und egal wie: auf den Beinen, auf den Knien, mit Hilfe der Hände, rollend … Ich war damals ja noch sehr klein.
    Das war mein erster »öffentlicher Auftritt«, mein erstes Theater, mein erstes gesellschaftliches Erlebnis, meine erste Musik und meine erste, noch unbewusste Liebe.
    Wäre das alles nicht in meinem Gedächtnis haftengeblieben, wäre mein Schicksal vermutlich anders verlaufen.
    Erst 1939, da war ich bereits zwei Jahre alt, fing ich endlich an zu sprechen. Im Spätherbst, ausschließlich Polnisch. Denn meine Matka Bronia war Polin, und mein russischer Vater saß ja wegen Kybernetik und Spionage im Großen Haus * . Bis dahin hatte ich nur gelächelt, wenn man mich ansprach; überhaupt lächelte ich mehr als nötig. Saß da, über und über mit allem Möglichen beschmiert, und lächelte. Doch dann sprach ich auf einmal,und gleich sehr viel. Matka Bronia freute sich natürlich und gab zur Feier des Tages ein polnisches Essen mit Linsen, Möhren und – Gästen.
    Am nächsten Morgen wurde sie abgeholt. Zuerst kam die Hauswartfrau Faina herein, eine Tatarin, hinter ihr ein höflicher Uniformierter mit einer Mappe in der Hand und dann noch andere, an die ich mich nicht erinnere. Der höfliche Uniformierte erkundigte sich nach dem Namen meiner Mutter und fragte mehrfach, ob sie Polin sei, und die anderen wühlten in unseren Sachen, in Schubfächern und Betten. Ich sagte ihnen, dass wir keine Wanzen hätten, aber auf Polnisch. Meine Mutter bat Faina, Janek aus dem Erdgeschoss zu holen, damit er mich zu sich nahm. Als Janek mich abholte, segnete Bronia mich im Namen der Matka Boska 1 und küsste mich. Felja, mein älterer Bruder, saß die ganze Zeit auf einem Stuhl am Fenster und wiegte sich wortlos vor und zurück. Er war damals schon seltsam.
    Faina, die Tatarin, bedauerte mich »arme Frühgeburt« und übergab mich den Polen im Erdgeschoss »zur Verwahrung«. Bald brachte sie auch Felja. Er war böse, weil die Männer ihn nicht mitgenommen hatten ins Große Haus. Sie hatten gesagt, wir seien noch zu klein, um Spione zu sein, aber wir würden bald in ein Heim geschafft.
    Ja, ich war noch sehr klein. Bei Opa Janek, einem polnischen Kunsttischler, wanderte ich, nachdem meine Mutter abgeholt worden war, unter den
     zahlreichen tischen, Sofas und Liegen herum und kannte mich bald in den Gefilden unter den Tischen wie überhaupt in jeglichem »Unten« bestens aus. Eines Tages fand ich in einer Nische unter einem Tisch etwas sorgsam Verstecktes und wurde dafür bestraft.
    Ich muss sagen, Janeks Tischlerhandwerk gefiel mir sehr. Am meisten liebte ich die Holzspäne. Sie waren wunderschön und
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