Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Titel: Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
Autoren: Frode Granhus
Vom Netzwerk:
1
Strandgut
    In Ermangelung gleichaltriger Spielkameraden unter den vierunddreißig Bewohnern der Insel klebten die beiden Jungs zusammen wie Pech und Schwefel. Und da sie nur eine kleine Insel mit den umgebenden Holmen zum Spielen hatten, mussten sie jeden Quadratmeter nutzen. So kam es, dass sie an diesem Tag zu den Klippen am Strand gingen, um nachzusehen, was seit ihrem letzten Erkundungsgang dort angespült worden war. Die steife Brise, die seit ein paar Tagen aus Nordwest geweht hatte, war plötzlich zu einem milden Wind aus Südost abgeflaut, der eher frisch als beißend kalt war. Die beiden hielten sich in der Mitte zwischen den trockenen Steinen der Klippen und dem glitschigen, algenüberwucherten Gestein, das einen knappen halben Meter über dem Meer lag. Sie trugen Rettungswesten – eine unerlässliche Bedingung dafür, dass sie alleine herumstreifen durften –, denn obwohl sie schwimmen konnten, hätte kein Zwölfjähriger den unberechenbaren Strömungen etwas entgegensetzen können.
    »Schau, heute fährt die Vesterålen .« Der eine Junge zeigte auf ein Schiff der Hurtigruten, das allerdings so weit entfernt war, dass man seinen Namen nicht lesen konnte.
    Der andere sah angestrengt auf das Meer und nickte. »Mit einer Viertelstunde Verspätung«, stellte er fest, bevor er mit einem wohlkalkulierten Sprung über eine einen Meter breite Felsspalte sprang.
    Sie setzten ihren Weg fort und balancierten über die glatten Steine, während sie eifrig nach neuen Entdeckungen Ausschau hielten. Als sie den Fuß einer größeren Klippe umrundeten, erweckte plötzlich ein Geräusch ihre Aufmerksamkeit.
    »Pssst!«
    »Was denn?«
    »Hör doch mal, Mann!«
    Die Brise trug ihnen einen seltsamen Laut zu.
    »Könnte vielleicht ’ne Robbe sein, die zwischen den Felsen eingeklemmt ist, oder?«
    Sie blieben stehen und lauschten konzentriert auf das Geräusch, das jetzt deutlicher zu hören war.
    »Das ist ganz sicher keine Robbe, Mann.«
    Die Jungs rannten so schnell weiter, wie es der Untergrund zuließ, und blieben nur ab und zu kurz stehen, um sich zu vergewissern, dass sie in die richtige Richtung liefen. An einer leichten Anhöhe blieben sie stehen, schnappten nach Luft und sahen sich um. Die seltsamen Laute kamen kurz und stoßweise.
    »Das kommt da aus der Felsspalte. Der muss sich irgendwie eingeklemmt haben.«
    »Wer ›der‹?«
    »Ich weiß nicht, irgendein Tier oder so.«
    Sie gingen hinunter ans Meer, bewegten sich jetzt aber vorsichtiger, fast ein wenig widerstrebend. Die Felsspalte teilte die Klippe wie eine klaffende Wunde, und als sie sich dem Rand näherten, mussten sie die letzten Meter auf allen vieren kriechen. Die Geräusche waren inzwischen verstummt. Die beiden streckten die Köpfe vor. Zwischen den Klippen kniete ein Wesen, dem das Meerwasser bis zum Bauch ging. Es machte eine ruckartige Bewegung, begleitet von einem tiefen Stöhnen. Dabei entdeckten die Jungen, dass es auf einem kleinen Stein saß. Bei seiner nächsten Bewegung konnten sie erkennen, dass seine Hände scheinbar unter Wasser festgebunden waren. Dann kamen wieder diese grässlichen Laute, wie von einem Tier in Todesangst. Der Mensch hob den Kopf zum grauen Himmel und versuchte erneut, sich zu befreien, doch vergeblich.
    »Hallo?«
    Als sie ihn so ansprachen, zuckte er zusammen, dann durchschnitt wieder sein heiseres Gebrüll die Luft.
    »Hallo?«
    Diesmal erstarrte der Fremde, als wollte er erst ganz sicher sein, dass er sich diese Stimmen nicht einbildete.
    »Brauchen Sie Hilfe?«
    Verzweifelt sah sich der Mann um. Als er die beiden Jungs aus den Augenwinkeln erspähte, wollte er sich ganz umdrehen, doch bei dem Versuch glitt er aus und fiel ins Wasser. Während er wieder auf den kleinen Stein kroch, erscholl erneut sein jämmerliches Gebrüll. »Helft mir.« Er stieß die Worte hervor, als wäre er bereits am Ende seiner Kräfte.
    Vorsichtig kletterten die Freunde in den Felsspalt und näherten sich dem Mann. Mit starrem Blick verfolgte er jeden ihrer Schritte, als hätte er Angst, dass sie sich im nächsten Moment in Luft auflösen könnten wie eine Fata Morgana, wie schon die Wunschbilder seiner Fantasie zuvor. Durch sein Haar, das zusammenklebte wie glitschiges Seegras, sah man die bleiche Kopfhaut durchschimmern.
    »Was ist passiert?« Sie blieben einen halben Meter vor ihm stehen.
    »Helft mir.« Der Fremde versuchte, die Hände zu heben, fiel aber wieder ins Wasser.
    Diesmal stürzten sie zu ihm, um ihm zu helfen, doch beim
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher