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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder
Autoren: Sabine Rennefanz
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Bedeutung der Mieter unterschieden wurde. Führenden Mitarbeitern des EKO wurde schon mal ein Häuschen mit Garten vermittelt. Denn ein Häuschen im Grünen war noch begehrter als eine neue Wohnung mit Parkett und Ornamenten. Meine Freundin Flora scheint das zu beruhigen. Sie nickt. In ihrer Spießigkeit sind sich Deutschland (Ost) und Deutschland (West) sehr einig.
    Für die nächste Ecke, die Saarlouiser Straße, hat Weise eine Anekdote parat, die er gern und regelmäßig erzählt. Zwischen Eisenhüttenstadt und Saarlouis im Saarland wurde 1986 die erste deutsch-deutsche Partnerschaft geschlossen. Erich Honecker soll Eisenhüttenstadt, die Vorzeigestadt, höchstpersönlich ausgesucht haben. In der ersten Delegation war auch der Lehrerchor, der kurz vor der Abreise noch schnell in Volkschor umbenannt wurde, weil das besser klang. Weise fuhr mit.
    In Saarlouis hielt ihm ein Fernsehreporter ein Mikrofon ins Gesicht. Stimmt es, dass der Volkschor bis vor einer Woche Lehrerchor hieß? Weise war die Frage unangenehm. Er verwies an den Delegationsleiter. Der Reporter ließ aber nicht locker: Wie, Sie dürfen wohl nicht reden? Weise macht nach, wie er gestottert hat und nicht wusste, was er sagen sollte. Alle lachen. Weise kann auch selbstironisch sein.
    Was haben Sie denn nun gesagt, Herr Weise?
    Ich habe gesagt: Früher hieß der Chor wohl mal Lehrerchor.
    Damit ließ er offen, wann die Umbenennung stattfand. Ein typischer Weise-Satz.
    Von der Saarlouiser Straße ist es nicht weit zu meinem ehemaligen Internat, einem länglichen Flachbau, mit Zimmernummern an allen Türen. In einem der Zimmer saß ich und wartete darauf, dass etwas passierte. Das Haus ist verdeckt von einer Gruppe Koniferen. Dazwischen zerrt eine etwa hundert Jahre alte Dame mit rosa T-Shirt und rosa Jogginghose ein Hündchen hinter sich her. Auch ihr Haar schimmert rosa.
    Die Führung ist fast zu Ende. Ab dem dritten Wohnkomplex ging es bergab mit der sozialistischen Architektur. Die Stalinbauten kamen aus der Mode. Es hieß nun: Baut deutsch. So kam es, dass über die Fassaden im dritten Wohnkomplex plötzlich Häschen und Schweinchen aus Holz hüpfen. Schnitzereien mit Motiven aus Grimms Märchen. Die Häuser haben nur noch drei Stockwerke, davor ein Treppchen, wie im Reihenhaus. Die Spießerrepublik DDR war geboren.
    Wir beenden die Tour in der Lindenallee, Weise drückt uns die Hand, ich gebe ihm als Dank ein Buch, dann verschwindet er. Meine Freunde wollen wissen, wo meine Schule war, doch ich weiß nicht, was ich ihnen zeigen soll. Meine Schule, die Erweiterte Oberschule Clara Zetkin, gibt es nicht mehr. Die Vergangenheit ist unauffindbar.

Die Prüfung
    Es war ein heißer Tag im Mai 1989, an dem die Temperaturen bis fast an die dreißig Grad kletterten, und ich trug ein Winterkleid.
    Das Kleid kam aus einem goldenen Westpaket. Ich probierte es an, es passte sofort. Es war aus einem grauen Stoff, mit langen Ärmeln, rosa Stehkragen und einem Petticoat-Rock. Ich fühlte mich sicher in dem Kleid, wie eine Schauspielerin aus einem Film der vierziger oder fünfziger Jahre, die immer am Sonntagnachmittag im Fernsehen liefen. Wenn ich mich im Kreis drehte, schwang der Rock hoch. Ich hatte das Kleid zum ersten Mal bei der Jugendweihe getragen. Das Land, dem ich im April 1989 die Treue schwor, sollte sich fünf Monate später auflösen. Aber das wusste ich damals noch nicht. Mein West-Kleid sollte mir Glück bringen.
    Ich stand vor dem Lehrerzimmer der EOS Clara Zetkin in Eisenhüttenstadt. Es war eine besondere Schule, zumindest für mich. Wenn ich aufgenommen würde, könnte ich im nächsten Schuljahr Französisch lernen. Für mich war die EOS Clara Zetkin die einzige Schule, an der man in der DDR Französisch lernen konnte. Später sollte ich erfahren, dass das nicht stimmte. In den größeren Städten konnte man oft zwischen Englisch und Französisch wählen.
    Ich hörte Stimmen von drinnen. Mein Herz klopfte schneller. Ich hatte Angst gehabt, zu spät zu kommen. Eisenhüttenstadt lag rund fünfzig Kilometer von meinem Dorf entfernt, aber es war mir vorgekommen wie eine Weltreise.
    Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist sehr klein. Jeder kennt jeden, es gibt keine Geheimnisse. Fremde erkennt man sofort. Es gibt drei Dutzend Häuser, an jedem zweiten hängt ein Schild: Vorsicht, bissiger Hund! Mit Fremden hat man hier keine guten Erfahrungen gemacht. Nicht, dass sich besonders viele Fremde in unsere Gegend verirrten. Das Dorf liegt an einer großen
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