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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder
Autoren: Sabine Rennefanz
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mehr der Geschichtenonkel. Er verteidigt sich zunächst, sagt, dass die Unterschiede im Geschichtsunterricht nicht so groß gewesen sind. Geschichte sei wie eine Literaturwissenschaft, alles nur eine Frage der Interpretation. »Die Fakten kannte ich, nur die Interpretation war bei uns anders.« An Samstagen, wenn klar war, dass es keine Kontrolle von oben geben würde, sei er manchmal vom Lehrplan ein wenig abgewichen. Aber im Großen und Ganzen hielt er sich an die Vorgaben. Die Partei hatte immer recht. »Wenn Sie so wollen, habe ich mein Mäntelchen in den Wind gehängt«, sagt er. Es ist das einzige Mal, dass ich einen Lehrer erlebt habe, der sich selbstkritisch äußert.
    Es ist nur ein kurzer Moment, ein einziger Satz, in den man viel hineinlesen kann: Enttäuschung, Selbsthass, Bitterkeit.
    Ich frage ihn, ob er mit der Stasi zu tun hatte. »Natürlich«, sagt er. Er erzählt, wie die Stasi regelmäßig in der Schule ein und aus gegangen sei. Ich höre das und komme mir unglaublich naiv vor, weil ich davon nichts geahnt habe. Bevor ein Schulabgänger als Soldat an die Grenze geschickt wurde, sei seine Entwicklung als sozialistischer Bürger überprüft worden. Ob es etwas Verdächtiges gegeben habe. Ich will ihn auch nach dem Wehrlager fragen. Ich selbst habe das nicht mehr erlebt. Weil ich jung genug bin, blieb es mir erspart. Wer nicht mitmachte, wer sich weigerte zu marschieren, der konnte seinen Studienplatz verlieren. Weise versichert, dass er persönlich nie negative Berichte geschrieben habe. Aber es gab natürlich noch militärische Leiter in dem Wehrlager.
    Weise, der inzwischen Mitte siebzig sein dürfte, sichert sich immer noch ab. Ich kann seine Aussagen nicht überprüfen, aber ich glaube ihm.
    Die Stadtführung läuft schon eine Weile, wir stehen in der Straße der Republik, als ein tiefergelegter BMW mit schwarz getönten Fensterscheiben an uns vorbeizieht, gefühlte 90 Stundenkilometer. Ich muss lächeln, es hat sich nicht viel geändert in Eisenhüttenstadt. Ein paar aus dem Internat und ich nutzten die Straße früher als Rennstrecke und ließen nachts, wenn wir von der Disko Eastside kamen, die Motoren aufheulen. Das war, als ich aufgehört hatte, die Schule ernst zu nehmen.
    Wir schlendern zur alten Gaststätte der DDR -Handelsorganisation Aktivist , dem Akki , wie die Hüttenstädter sagen. Dort, wo früher die Feiernden bei Wein und Steak zusammen-
saßen, wurden inzwischen Glaswände eingezogen, Lüftungen eingebaut, Schreibtische und Telefone hingestellt. Ein Wohnungsunternehmen hat den »Akki« vor wenigen Jahren gekauft. Die neuen Besitzer haben das alte, zerfressene Parkett herausgerissen und Auslegeware über den Boden gespannt. Trotzdem hat das Haus seine Wirkung nicht verloren.
    Ich bewundere die fein getäfelten Wände, die hohen weißen Decken, von denen golden glänzende Leuchter hängen, bedächtig steige ich die Treppe in den zweiten Stock zum Tanzsaal hinauf. An der Wand hängen bunte Bilder von fröhlichen Arbeiterfrauen. In meinem Gedächtnis wird die DDR immer trister, je mehr Zeit vergeht, hier sehe ich eine andere DDR . Ich sehe den Optimismus der Aufbaujahre, die Hoffnungen, ein besseres Deutschland aufzubauen, die, als ich aufwuchs, längst zu Dogmen erstarrt waren. Ich stehe wehmütig in dem Saal und streiche mit den Fingern über die Täfelungen. Als meine Augen feucht werden, verlasse ich ihn, so schnell ich kann.
    Till, der Schweizer, und Ivan, der Engländer, posieren vor dem Schriftzug »Aktivist«, sie ballen ihre Fäuste, wie sie es auf Bildern gesehen haben, und fotografieren sich gegenseitig. Würde ich das machen, würde ich als unverbesserliche Nostalgikerin gelten, wie eine PDS -Wählerin mit beigefarbenen Sandalen. Ich beneide Till und Ivan um ihre Unbekümmertheit, sie laufen durch Eisenhüttenstadt wie durch ein Museum des Kalten Krieges.
    Meine Freunde werden nervös, Weise bringt ihre Vorstellungen vom Osten durcheinander. So viel Luxus in der DDR ? Sie suchen nach etwas Negativem, das ihrem Bild von der Diktatur entspräche. »Wer bekam denn die Wohnungen mit Balkonen? Waren das die Fabrikdirektoren? Musste man dafür extra zahlen?« Meine Freundin Flora, bekannt für ihre bohrenden Fragen, feuert eine Salve ab. Gute Fragen, denke ich, die ich trotzdem nie gestellt hätte. Die man vielleicht nur so stellen kann, wenn man im Westen aufgewachsen ist. Im Osten sprachen wir nicht von Fabrikdirektoren.
    Weise antwortet, dass durchaus zwischen der
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